Interview Pilgern„Religion in Bewegung“

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Herr Ebertz, halten Sie Pilgern für ein typisches Phänomen der Postmoderne?

Michael Ebertz: Ja, insofern sich im Pilgern zeigt, dass Religion nichts Statisches mehr ist, nichts Vorgegebenes. Religion ist im Wortsinn in Bewegung geraten. Es geht nicht um fertige Antworten, sondern um eigene Erfahrungen. Der moderne Pilger öffnet sich, wenn er unterwegs ist, für Dimensionen, die jenseits der Alltagssphäre liegen. Pilger sind Suchende, die erfahrungsorientiert und nicht unbedingt religiösen Dogmen verpflichtet sind.

Wie erklären Sie sich die ungebrochene Lust am Pilgern?

Ebertz: Ich glaube, man kann die Begeisterung fürs Pilgern durchaus in einem Zusammenhang sehen mit anderen Bewegungen, die im Trend liegen und bei denen Menschen einen Kick suchen – wie Extrem-Bergsteigen oder Bungee-Jumping. Auch beim Pilgern nähert man sich gewissermaßen einer Grenzerfahrung, will etwas Verborgenes enthüllen wie ein sorgsam verpacktes Geschenk. Das können Transzendenz-Erfahrungen im Sinne einer Begegnung mit Gott sein oder – schlichter – Erlebnisse, die einem im Alltag verwehrt sind. Wenn die Bereitschaft da ist, können Extremsituationen entstehen, die einen unter Umständen so packen und die so nachhaltig sind, dass Menschen nach ihrer Rückkehr ins gewohnte Umfeld ihre Lebensgewohnheiten ändern. Weil es auf die Transzendenzfrage heute keine verbindlichen Antworten mehr gibt, ist man auf sich selbst verwiesen.

Michael N. Ebertz ist Religionssoziologe und Theologe. Er lehrt an der Katholischen Hochschule Freiburg.

Worin sehen Sie den entscheidenden Unterschied zum Wallfahren?

Ebertz: Der heutige Pilger geht allein oder ist in überschaubaren Gruppen unterwegs, man marschiert nicht wie beim Wallfahren in großen Trupps. Pilgern ist ein hochgradig individualisiertes Phänomen. Die Wallfahrt ist im Gegensatz dazu ein von der Kirche kollektiv organisiertes und formalisiertes Ritual. Der Einzelne wirkt darin nur als Glied in der Kette mit. Man kann nicht allein wallfahren, das wäre ein Widerspruch in sich. Wallfahrer sind in der Regel kirchennäher und oft auch konservativer eingestellt. Es gibt Pilger, die sich Jahr für Jahr ein bestimmtes Pensum auferlegen – im Sinne einer Selbstverpflichtung. Bei Wallfahrern spielt eher eine Rolle, dass man, von der Kirche durchaus dazu ermuntert, Heilsprämien fürs Jenseits sammelt. Die Stempel, die die Pilger auf der Route sammeln, sind zwar auch Pluspunkte, aber in keiner sozusagen gängigen Währung, sondern ganz individuell, privat und beinahe schon intim.

Was bedeutet es für die Kirchen, wenn sie registrieren, dass der moderne Pilger oft nicht mehr fromm ist, wohl aber spirituell?

Ebertz: Das bedeutet, dass von den Menschen, die sich zum Beispiel auf den Jakobsweg begeben, viele nicht mehr unbedingt den persönlichen christlichen Gott als Bezugsgröße sehen, sondern dass der gemeinsame Nenner der Glaube an ein Geheimnis über oder hinter dem alltäglichen Leben ist. Der Begriff „spirituell“ ist sehr offen und diffus. Eine Formel für alles, was unseren Alltag irgendwie geheimnisvoll übersteigt. Manche sprechen auch von Energie.

Nach offiziellen Angaben des Pilgerbüros in Santiago de Compostela bilden Konfessionslose nach den Katholiken die zweitgrößte Gruppe von Pilgern.

Ebertz: Das bestätigt meine These, dass viele Menschen, die keiner Kirche angehören, deswegen nicht notwendigerweise areligiös sind, sondern trotzdem oft eine Antenne für Transzendenz haben können.

Welchen Anteil hat Hape Kerkelings Bestseller an der ungebrochenen Popularität des Pilgerns?

Ebertz: Der Anteil ist sicher beträchtlich, wenn auch nicht empirisch nachweisbar. Ich kann mir vorstellen, dass sich 30 Prozent der Jakobspilger davon haben inspirieren lassen. Das Interessante ist ja, dass Kerkeling religiöse Traditionen mit der Popkultur verbindet und damit ein Tabu bricht – so ähnlich wie die singende italienische Ordensschwester, die kürzlich bei „Voice of Italy“ Furore machte. Da sind sich sozusagen Himmel und Erde begegnet. Kerkeling hat das Pilgern für Kreise, die religiös abstinent sind, salonfähig gemacht. Er hat eine Brücke geschlagen und vermutlich ungewollt eine Bewegung des individuellen Pilgerns nachhaltig befeuert. Religion ist damit keine Domäne mehr, über die die Kirche allein verfügt. Sie und ihr Klerus werden in diesem Bereich quasi enteignet, weil sie die exklusive Kontrolle über das Religiöse verlieren.