Bernhard Ganders „Melting Pot“ in KölnWenn Klassik wie ein durchgedrehtes Stahlwerk explodiert

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Orchester und Tänzer befinden sich auf einer Bühne.

Das Kölner Gürzenich-Orchester und andere Mitwirkende beim „Melting Pot“-Konzert

Bernhard Ganders Projekt „Melting Pot“ brachte im Kölner Carlswerk Victoria das Gürzenich-Orchester und die Hip-Hop-Szene zusammen.

Schon auf dem Weg von der Keupstraße zum Carlswerk wird man Teil eines Ausgehpublikums, das sich vom üblichen Zustrom zur Philharmonie merklich unterscheidet: Die Menschen sind jünger, lauter, quirliger, anders gekleidet und in verabredeten Gruppen unterwegs. Im Vorhof der Victoria-Halle deckt man sich mit Getränken ein, und drinnen sitzt man nicht wohlsortiert auf nummerierten Plätzen, sondern steht wie beim Rock- oder Popkonzert vor der Bühne plaudernd und trinkend beisammen, bis die Show zwanzig Minuten später als angekündigt beginnt. Wie überall pflegt man auch hier Rituale, aber andere als im Klassiktempel.

Im Kölner „Melting Pot“: das Gürzenich-Orchester und die hiesige Hip-Hop-Szene

Rapper MC Rene begrüßt die Menge und stellt alle Mitwirkenden vor, die mit gut gelauntem Pfeifen, Johlen, Klatschen, Winken begrüßt werden. Der Titel der Veranstaltung „Melting Pot“ verdankt sich dem gleichnamigen Stück des österreichischen Komponisten Bernhard Gander. 2011 in Wien uraufgeführt gelangte das inzwischen auch in Bozen und Trient gespielte Stück nun zur deutschen Erstaufführung. Das Konzept sieht die Vereinigung ortsansässiger Musikschaffender unterschiedlicher Genres vor: in Köln das Gürzenich-Orchester unter Leitung von Titus Engel sowie aus der hiesigen Hip-Hop-Szene Rapper, DJ, Slam-Poet, Beatboxer, Breakdancer und Visual-Artist. Vorbild ist die Metropole New York City, die gerne als Schmelztiegel der Völker und Kulturen bezeichnet wird, obwohl sich die Ethnien und Nationen hier oft gerade nicht mischen, sondern in Little Italy, Chinatown, Harlem oder der Bronx separieren. Doch genau das ist auch Idee von Ganders Stück. Verschiedene Stile sollen sich verbinden, aber auch sie selbst bleiben.

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Gleich zu Anfang explodiert das Orchester wie ein durchgedrehtes Stahlwerk. Der Apparat stampft, wühlt und hämmert lautstark mit Clustern und zischenden Blitzen. Statt um differenzierte Tongebung und artikulatorische Feinheiten geht es unter glühender Light-Show um pure Körperlichkeit, Haptik, Intensität, Lautstärke, Wucht. An die Stelle der Orchestermasse treten bald wummernde Elektro-Beats von DJ HulkHodn, zu denen die Rapper Retrogott und MC Rene ihre Wortsalven loslassen. Dann liefern sich die Beatboxer Ruben Michalik und Wole Crüsemann ein Battle mit knallenden Bartók-Pizzikati der Kontrabässe. Und die sechs Tänzerinnen des Kollektiv nutrospektif bewegen sich wahlweise zu Elektrobeats oder Paukenschlägen ebenso hoch energetisch, cool und expressiv mit extremen Tempowechsel, fast forward, slow motion, freeze. Rollenmuster und Spartengrenzen werden aufgehoben und verschiedene Menschen und Kulturen zusammengebracht. Das wegen vieler ergrauter Häupter als „Silbersee“ bespöttelte Klassik-Publikum glänzte freilich durch Abwesenheit.

Zu gleißenden Streicherklängen rezitierte Florian Cieslik Gedanken zu Schmerztiegel und Edelmetallen

Zu gleißenden Streicherklängen rezitierte Florian Cieslik im Poetry Slam Gedanken zu Schmerztiegel und Edelmetallen mit Anspielungen auf aktuelles Zeitgeschehen, Rechtsradikale, Literatur, Musik und das gerade ablaufende Projekt des Gürzenich-Orchesters: „Spaltung war immer mein Feind, Haltung mein Freund, bis keiner mehr weint.“ Oder: „Ich schmelze dahin, denn erst, wenn die Herzen schmelzen, gibt alles einen Sinn.“ Motive des Abends griffen auch die Visuals von Latete in Comics-Ästhetik auf. Hinter dem Orchester flirrten über die Leinwand schemenhafte Bewegungen von Dirigent, Tänzerinnen, Orchester, Noten und Grafiken. Nach einer Dreiviertelstunde setzten die Rapper den (selbst)ironisch ätzenden Schlusspunkt mit: „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war. Alles muss sich ändern, nur ich nicht, denn ich mach’ alles richtig.“

Nebenan im Club Volta ging es bei einer Aftershow-Party mit DJ HulkHodn weiter nach dem Motto: „Feiern wir zusammen die Vielfalt und das, was wir alle teilen: die Leidenschaft für Musik!“ Im ausschließlich per QR-Code online-verfügbaren Programmzettel bewarb das Gürzenich-Orchester seine Abo-Konzerte, die für junge Erwachsene bis 28 Jahren jeweils hundert Karten aller Sitzplatzkategorien zum Einheitspreis von nur 8 Euro bereithalten. Ein tolles Angebot, das hoffentlich auch wahrgenommen wird.