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Kölner Ehrenbürger
War Ferdinand Franz Wallraf ein Antisemit?

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Ein älterer Mann schaut den Betrachter gütig an.

Porträt des späten Ferdinand Franz Wallraf von Egidius Mengelberg

Im Jubiläumsjahr ist eine irritierende Passage über „die Juden“ im Werk Ferdinand Franz Wallrafs aufgetaucht. War der gefeierte Kölner Ehrenbürger ein Judenhasser? 

An Ferdinand Franz Wallraf, dem Kölner Ehrenbürger, gibt es viel zu rühmen, zumal anlässlich seines 200. Todesjahrs, das die Stadt Köln derzeit mit etlichen Würdigungen und Feierlichkeiten begeht. Da wäre sein aufgeklärter Reformwille ebenso zu nennen wie sein Sammeleifer, auf den sich das nach ihm benannte Wallraf-Richartz-Museum gründet. Dazu sein wacher, wendiger Geist, der ihn in verwirrend viele städtische Funktionen brachte, und selbstredend seine über jedes vernünftige Maß hinaus gehende Liebe zu seiner Heimatstadt.

Auch an Wallrafs irritierende Seiten lassen wir uns für gewöhnlich gerne erinnern. Über das Chaos in seinem bis unter die Decke mit wertvollen Sammlungsstücken vollgestopften Haus entsetzte sich schon Goethe, und Wallrafs politischer Opportunismus lässt einen beinahe schon wieder ehrfürchtig zurück. Solange es Köln diente, rühmte Wallraf den aufgeklärten Eroberer Napoleon in den höchsten Tönen; nach 1815 erlebte Bonaparte auch in Wallrafs Schriften sein Waterloo.

Sehr viel problematischer ist hingegen eine Seite, die wir bisher an Wallraf nicht kannten, die wir ihm, dem katholischen Aufklärer, wohl auch nicht zugetraut hatten, und die nun durch einen Zufallsfund des Literaturhistorikers und langjährigen Redakteurs dieser Zeitung, Markus Schwering, (wieder) ans Licht kommt. In einem Aufsatz über das „Gemälde der Stadtpatrone Kölns“ im „Taschenbuch auf das Jahr 1816“ schrieb Wallraf in einer Anmerkung: „Die Juden wurden nicht nach der märchenhaften Erzählung von überall vergifteten Brunnen etc. aus Köln vertrieben, sondern wegen ihres, den Handel und die Familien zerrüttenden, überschwenglichen Wuchers, wegen ihrer, die christliche Moralität verpestenden, falschen, oft eidmäßigen Versicherungen, besonders aber wegen ihrer Partheilichkeit für den, sie mit ungebührlichen Privilegien gegen die Stadtfreiheit begabenden, kurfürstlichen Hof, dem sie dafür mit Verrätherei, mit Ränken und Aufruhrstiften zwischen Obrigkeit und Bürgerschaft etc. dienten.“

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Ohne Quellenbelege und historische Recherche betet Wallraf hier das ebenfalls sattsam bekannte Narrativ vom Wucherjuden nach
Markus Schwering, Autor

Markus Schwering zitiert diese Passage in seiner „Kölner Literaturgeschichte“ und kommentiert: „In der Zurückweisung archaischer judenfeindlicher Motive wie der angeblichen Brunnenvergiftung als ‚Märchen‘ kommt tatsächlich der Aufklärer Wallraf durch. Seine ‚aufgeklärte‘ Judenfeindschaft ist allerdings um keinen Deut besser: Ohne Quellenbelege und historische Recherche betet er hier das ebenfalls sattsam bekannte Narrativ vom Wucherjuden nach, der die christliche Gemeinschaft zerrüttet. Eine Reflexion darauf, dass es die Gesetzgebung und die Verbotsagenda der christlichen Mehrheit gewesen war, die die Juden dazu gezwungen hatten, bevorzugt im Kreditwesen ihr Fortkommen zu suchen, unterbleibt vollständig – im Schnellverfahren werden aus Opfern Täter.“

Wie das Wallraf-Zitat finden sich diese Sätze in einer Fußnote des Buchs. Allerdings wollte Schwering die für Wallraf ehrenrührige Passage dort keinesfalls verstecken, sondern, da sie außerhalb seines Forschungsgegenstands lag, vielmehr in der Fachwelt zur Diskussion stellen. Wallrafs Verhältnis zu den Juden ist weitgehend unerforscht geblieben; Schwering sieht hier ein dringendes wissenschaftliches Projekt. In seiner Fußnote kommt er daher lediglich zu vorsichtigen, aber gleichwohl deutlichen Einschätzungen. So schreibt er, Wallraf falle mit seinem „judenfeindlichen Statement“ deutlich „hinter den Stand zurück, den die aufklärerische Befassung mit dem ‚Judenproblem‘ erreicht hatte“, etwa in Christian Konrad Wilhelm Dohms Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ aus dem Jahr 1781.

Versuchte sich Wallraf an einer Ehrenrettung seiner in Religionsfragen traditionell intoleranten Heimatstadt?

Im Gespräch mit dieser Zeitung betont Schwering, dass man bei der Bewertung von Wallrafs Äußerung die Zeitumstände näher beleuchten müsse. Zu fragen wäre etwa, ob solche antijüdischen Klischees in der dünnen Kölner Bildungsschicht zum „Normalfall“ gehörten, zumal die Religionsfreiheit für Juden und Protestanten in Köln erst durch die napoleonische Besatzung verwirklicht worden sei. In dieser Zeit siedelten sich vermehrt jüdische Familien in Köln an, ohne dass es deswegen zu größeren Schwierigkeiten im Stadtleben gekommen wäre. Dies, so Schwering, könnte die katholische Bürgermehrheit, zu der Wallraf gehörte, in Erklärungsnot gebracht haben. In seiner „Kölner Literaturgeschichte“ mutmaßt Schwering, Wallraf habe sich an einer Ehrenrettung seiner Heimatstadt versucht, indem er die „traditionelle konfessionelle Intoleranz des reichsstädtischen Kölns“ auf eine scheinbar rationale Grundlage stellen wollte. Akzeptabler werde Wallrafs „Invektive“ durch diese zu vermutende Motivation jedoch nicht.

Zu den Zeitumständen gehört für Schwering auch der erstarkende deutsche Nationalismus, der sich nicht zuletzt gegen alles Französische gewandt habe. Als Nutznießer der von Napoleon durchgesetzten Religionsfreiheit seien die Juden der deutschnationalen Bewegung beinahe automatisch verdächtig geworden. Zwar sei Wallraf vor allem Lokalpatriot gewesen; aber es sei nicht auszuschließen, dass der judenfeindliche Nationalismus ihn beeinflusst habe.

Bei der Frage, ob Wallrafs Aussage eher als antisemitisch oder antijudaistisch zu werten sei, tendiert Schwering zu letzterem. Wallraf habe mit konvertierten Juden freundschaftlichen Umgang gepflegt, woraus sich ableiten ließe, dass sich seine zu Papier gebrachte Judenfeindschaft gegen die Angehörigen einer Religion richtete und nicht gegen eine imaginierte „Rasse“. Aber dies bedürfe ebenfalls noch eingehender Aufarbeitung.

Wallrafs Zitat ist ganz eindeutig voller Vorurteile und antisemitischer beziehungsweise antijudaistischer Stereotype
Sebastian Schlinkheider, Historiker

Eigentlich gilt Wallraf als gut erforscht. Allerdings war auch dem Kölner Historiker Sebastian Schlinkheider, der soeben mit einer Arbeit zur geschichtskulturellen Rezeption Wallrafs promoviert wurde, das Zitat bislang unbekannt. Auf Anfrage dieser Zeitung stimmt Schlinkheider den Einschätzungen Schwerings vollständig zu. Wallrafs Sätze seien „ganz eindeutig voller Vorurteile und antisemitischer beziehungsweise antijudaistischer Stereotype“. Inhalt und Tonfall seien „aus heutiger Sicht höchst irritierend und problematisch“.

Für Schlinkheider zeigt die Passage, „dass Wallraf hier antisemitische Diskurse reproduziert, die in seiner Zeit offenbar auch in den gemäßigt aufklärerischen Kreisen Kölns zirkulierten und wohl ohne Widerspruch formuliert werden konnten“. Gerade in der Zeit der Aufklärung habe es „erhebliches antisemitisches Gedankengut“ gegeben, Wallraf habe sich insofern in zeitgenössischen Deutungshorizonten bewegt. „Die Befürchtung besteht, dass Wallraf durch seine exponierte Rolle in der Stadt Köln solche Positionen auch ein Stück weit legitimieren konnte.“

Es sei allerdings schwer einzuschätzen, so Schlinkheider, wie einflussreich Wallrafs Positionierung in dieser Fußnote tatsächlich war. „Nach meinem Kenntnisstand gilt, dass solche Aussagen bei Wallraf als höchst kursorisch eingeschätzt werden können; mir ist keine weitere vergleichbare Stelle bekannt. Das schließt zwar keineswegs aus, dass sich Inhalte wie diese oder antisemitische Untertöne auch in anderen Werken Wallrafs finden könnten. Immerhin lässt sich aber sicher ausschließen, dass Wallraf etwa ein erklärtermaßen antijudaistisches oder antisemitisches Traktat oder Pamphlet verfasst hätte. Dies lässt sich anhand ausführlicher Werkverzeichnisse, wie sie uns etwa von Joachim Deeters vorliegen, recht sicher sagen.“

Es könnte demnach eine einfache Erklärung dafür geben, dass Wallrafs Verhältnis zu den Juden bislang kein Gegenstand der Erörterung und Forschung war: Juden spielten, wie es scheint, in seinen Schriften so gut wie keine Rolle. War die Fußnote also ein bestürzender, aber einmaliger „Ausrutscher“? Diese Frage, betont auch Schlinkheider, lasse sich beim Stand der aktuellen Forschung nicht beantworten. Ganz unbemerkt sei die „problematische Stelle“ gleichwohl nicht geblieben: „Als Wallrafs Text mit diesem Zitat 1861 noch einmal unverändert abgedruckt wurde, gab es in den einleitenden Anmerkungen eine knappe Notiz seitens der Herausgeber: ‚Der Grund zur Verfolgung der Juden ist in noch ganz anderen, als in den von Wallraf angegeben Motiven zu suchen.‘ Weiter kritisiert oder differenziert wird Wallrafs Formulierung allerdings nicht.“