Meisterwerk „Brat“Warum Charli XCX' neues Album das beste des Jahres ist

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Charli XCX erscheint auf dem roten Teppich der Met Gala 2024 zur Feier von Sleeping Beauties: Reawakening Fashion im Metropolitan Museum of Art am Montag, 6. Mai 2024 in New York City.

Charli XCX hat mit „Brat“

Nach 16 Jahren im Musikbusiness rettet die britische Sängerin Charli XCX das Popjahr 2024.

Ihr erstes Album veröffentlichte Charli XCX bereits mit 14 Jahren. Damals trat sie häufig als Überraschungsgast illegaler Raves in London auf, begleitet von ihren außerordentlich verständnisvollen Eltern. Mit 19 Jahren landete sie ihren ersten Hit an der Seite des schwedischen Duos Icona Pop, „I Love It“, Platz 7 in den amerikanischen Billboard-Charts. „Fancy“, der Iggy-Azalea-Track für den Charli XCX den Refrain geschrieben und eingesungen hatte, schaffte es zwei Jahre später bis zur Spitze. Im selben Jahr gelang ihr mit der trashigen Elektro-Punk-Nummer „Break the Rules“ auch in Deutschland einen Hit.

Seitdem blieb Charli stets im Gespräch, ohne jemals die höheren Sphären zu erreichen. Ob sie nun mit den Jungs der K-Pop-Band BTS kollaborierte oder mit Christine and the Queens und Caroline Polachek, stets landetet die Britin im Niemandsland zwischen flitterndem Hitparaden-Ruhm und dem fragwürdigen Status des ewigen Lieblings der Kritiker, die sie als kühne Visionärin feierten. Zuletzt flirtete sie auf „Crash“ mit maximalistischem, ultrakommerziellem Pop, das Album konnte man wahlweise als Traktat über den Ausverkauf oder als ebensolchen lesen.

Es war durchaus erfolgreich, aber eben mal wieder nur in Maßen. „Ich bin berühmt, aber nicht so ganz“, schätzt sich die Künstlerin in ihrem Song „I Might Say Something Stupid“ ein und fügt noch selbst abwertend hinzu: „Perfekt für den Hintergrund.“ Das Stück findet sich auf Charli XCX' neuestem Album „Brat“. Für das hat sie sich wieder mit dem Produzenten A.G. Cook zusammengetan, dessen Label PC Music in den vergangenen zehn Jahren die Vorhut der Popmusik bildete, in dem es alles Glatte, Ultrahochverarbeitete und Wegwerfbare betonte: hochgepitchte, autogetunte Stimmen, dünne Windows-95-Klänge. Die totale Affirmation als Avantgarde, das war immer schon die Strategie der Pop Art.

Doch auf „Brat“ nutzt Charli – mittlerweile eine 31-jährige Szene-Veteranin, die alles gesehen hat – diesen wohlerprobten Sound, um persönlicher zu werden als jemals zuvor. Freilich ist sie viel zu gewieft, als dass sie ins bloß Bekenntnishafte verfiele, das überlässt sie Künstlerinnen, die autobiografische Alben nach ihrem zweiten Vornamen betiteln. Weshalb sie in „I Think About It All the Time“ ganz unverblümt über die Möglichkeit der Mutterschaft nachdenkt: „Soll ich meine Verhütungsmittel absetzen, weil sich meine Karriere im Großen und Ganzen klein anfühlt?“ – während sie im vorangehenden Track noch die „Mean Girls“ des Internets gefeiert hatte, die politisch Unkorrekten, im Hinterzimmer Koksenden und auch sonst etwas außer Kontrolle geratenen.

Das bewegende „So I“ ist eine Eloge auf ihre 2021 gestorbene Produzentin Sophie, deren Solodebüt „Oil of Every Pearl's Un-Insides“ vielleicht das einflussreichste Pop-Album der 2010er ist. Aber Charli vermeidet auch hier das Klischee und singt lieber reuevoll davon, wie sie die brillante Freundin von sich weggestoßen hat, eingeschüchtert von deren Talent. Nichtsdestotrotz ist „Brat“ vor allem eine Platte zum Mittanzen geworden, man muss sie laut hören, um ihre Subtilitäten zu erfassen.

Und endlich scheinen hier Kritik und Kommerz versöhnt: Kein Album ist in diesem Jahr besser besprochen worden und nach den bislang verkauften Einheiten gerechnet – es sind beinahe doppelt so viel wie von  „Crash“ – wird es wohl auf Platz 4 der US-Charts einsteigen. Als hätte Charli XCX erst auf dem Boden bleiben müssen, um die höheren Sphären zu erreichen.

„Brat“ ist bei Atlantic erschienen