Neuer RomanWarum Colson Whitehead der größte lebende Autor der USA ist

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Autor Colson Whitehead

New York – Für seine beiden vorhergehenden Romane, „The Underground Railroad“ und „The Nickel Boys“, hat Colson Whitehead zweimal hintereinander den Pulitzer-Preis gewonnen. Damit gehört er einem sehr exklusiven Club an, steht in einer Reihe mit William Faulkner, Norman Mailer und John Updike.

Überhaupt dürfte der New Yorker inzwischen der am häufigsten ausgezeichnete Autor der USA sein, noch dazu einer, dessen Bücher sich neben all dem Kritikerlob auch beim allgemeinen Publikum sehr gut verkaufen. Oscar-Gewinner Barry Jenkins („Moonlight“) hat „Underground Railroad“ als zehnteilige Serie für Amazon Prime verfilmt.

Pandemie vorausgeahnt

Aber das Bemerkenswerteste an Colson Whiteheads Werk ist wohl der Umstand, dass keiner seiner acht Romane den anderen gleicht. Science-Fiction, Magischer Realismus, Parabel, Zombie-Apokalypse: Für den 51-Jährigen sind literarische (und nicht ganz so literarische) Genres offensichtlich nur ein weiteres Stilmittel im Werkzeugkasten.

Sein 2011er Roman „Zone One“, der mit den Zombies, gilt als eines jener Bücher, die unwillentlich die aktuelle Pandemie vorausgeahnt haben.

Übersetzung vor Original

„Harlem Shuffle“, Whiteheads neuestes Buch erscheint an diesem Montag in Nikolaus Stingls souveräner deutscher Übersetzung,  das amerikanische Original folgt erst im September. Es ist sein erster Krimi. Zugleich jedoch ein historischer Roman, eine Liebeserklärung an das Harlem der frühen 1960er Jahre, stolz und schwarz aber am Rande der Verelendung.

Eine große Gemeinsamkeit findet sich nämlich doch in Colson Whiteheads Romanen, aus ihren jeweils völlig unterschiedlichen Perspektiven werfen sie Schlaglichter auf dieselbe Sache: die schmerzhafte afroamerikanische Erfahrung.

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Wir befinden uns also im New York von James Baldwin und Malcolm X, doch wir erleben es durch die Augen eines sehr viel bescheideneren Mannes. Ray Carney betreibt ein Möbelgeschäft auf der 125. Straße, dem Zentrum Harlems. Hier befindet sich unter anderem auch das berühmte Apollo Theater.

Carney denkt aber sehr viel häufiger über neue Couchgarnituren und Essecken nach als über die Bürgerrechtsbewegung. Seine Träume richten sich hauptsächlich auf ein neues Apartment am Riverside Drive für seine kleine Familie, mit Blick auf den Hudson River. Er wäre eben gerne schwarze Mittelschicht, ein respektabler Bürger. Von den „Weißbacken“ downtown erwartet er sich sowieso nichts.

Krimineller Vater

Als im Juli 1964 die „Harlem Riots“ ausbrechen, hält sich Carney von den Rangeleien zwischen den aufgebrachten Einwohnern und der New Yorker Polizei fern, nachts bewacht er seine Waren vor möglichen Plünderern. Es kann eben nicht jeder ein Visionär und Freiheitskämpfer sein – und man kann das verstehen. Denn Carney hat sich aus prekären Verhältnissen hochgearbeitet. Er ist allein mit einem berufskriminellen Vater aufgewachsen, der sich entweder auf Fischzug oder im Gefängnis befand — oder seinen Rausch ausschlafen musste.

Das ist die Welt, der Ray Carney entkommen möchte – aber nie wirklich entkommen kann. Zum einen, weil das Erbe seines Vaters nicht nur aus erzieherischer Verantwortungslosigkeit besteht, sondern auch aus 30 000 Dollar, die dieser im Ersatzreifen seines alten Pick-up-Trucks versteckt hatte.

In der Sackgasse

Und zum anderen, weil da noch sein Cousin Freddie ist, den jeder für seinen Bruder hält. Freddie fehlt das Talent zur bürgerlichen Existenz, er hat immer das nächste große Ding am Laufen und schlägt regelmäßig im Möbelladen auf, wenn er sich einmal mehr in eine Sackgasse manövriert hat. Carneys Hilfe ist nicht völlig uneigennützig: Ohne das Geld, dass die weiterverkauften Waren einbringen, die von irgendeinem  Laster direkt vor Freddies Füße gefallen sind, könnte er kaum die nächstfällige  Miete zahlen.

Das bisschen Hehlerei betrachtet Carney als notwendiges Übel auf dem Weg zur Wohlanständigkeit. Doch dann zieht ihn Freddy in einen Raubüberfall auf Harlems prestigeträchtigste Unterkunft hinein, das Hotel Theresa, und plötzlich hält er in seinem Büro  ein Schmuckstück in der Hand, für das ein stadtbekannter Gangsterboss zu morden bereit ist. Die Leichen lassen nicht lange auf sich warten.

Die Erzählung von „Harlem Shuffle“ erstreckt sich über fünf Jahre, nimmt mal ein paar Schritte seitwärts, mal ein paar vor und zurück, wie der gleichnamige Tanz. Es gibt keine geraden Wege in Harlem, nur immer mehr Verwicklungen und Komplikationen, auch wenn Whitehead konstant die Spannung hält.  Die ergibt sich freilich weniger aus dem Plot als aus der Frage, wie die kriminellen Machenschaften den Aufsteiger Ray Carney verändern werden, ob er sich, wie Walter White aus „Breaking Bad“, am Ende gar als Bösewicht der Geschichte herausstellt.

Sagenhaft detailreich

Was das Buch zum großen Lesevergnügen macht. Aber noch nicht zum großen Roman. Zu dem wird „Harlem Shuffle“ dank Whiteheads sagenhaft dichter Beschreibung des alten Harlem, von den  zwielichtigen Absteigen bis zum  Mount Morris Park, das hier vor dem geistigen Auge des Lesers ersteht wie  auf einem stereoskopischen Bild, so real und dreidimensional, dass man glaubt, es mit ausgestreckter Hand anfassen zu können.

Dem Magazin „Entertainment Weekly“  hat der Autor erzählt, dass er schon seit Jahren, schon vor „The Nickel Boys“, an seinem neuen Buch gearbeitet habe. Es ist ein Wunder an gründlicher, ja penibler Recherche. Daran denkt man jedoch frühestens, wenn man die letzte Seite von „Harlem Shuffle“ hinter sich gelassen hat, denn das größere Wunder ist, wie beiläufig elegant Whitehead sein Detailwissen in die Handlung integriert hat.

Selbstverständlich geht es in diesem, wie in jedem historischen Roman, um das Hier und Jetzt. Um die Frage, wie man sich in einer Welt behaupten kann, deren Regeln Leute schufen, um ebendies zu verhindern. Ohne dabei selbst zum Gauner zu werden. Der Aufstand von 1964 wurde übrigens von einem Polizistenmord an einem 15-jährigen Jugendlichen ausgelöst – wir leben also noch immer in der Welt von „Harlem Shuffle“.

Colson Whitehead: „Harlem Shuffle“, Hanser, 384 Seiten, 25 Euro, E-Book: 18,99 Euro