Oscar-verdächtiger Film „Nomadland“Chloé Zhao zeigt ein Amerika der Extreme

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Frances McDormand als Fern in „Nomadland“

Frances McDormand als Fern in „Nomadland“

Das Auto ist das kinetische Freiheitssymbol der USA. Immer in Bewegung, ständig auf Touren, manchmal sind seine Fahrer auf der Flucht, auch vor sich selbst. Das Kino hat eine Entsprechung zur Straße gefunden, nämlich das Roadmovie. Es träumt auf der Leinwand den Traum weiter, dass Amerika grenzenlos sei.

In Chloé Zhaos „Nomadland“ spielen Automobile, Highways und Reisen eine Hauptrolle, und dennoch handelt es sich um einen Film über ein Land im Stillstand. In seinem Mittelpunkt steht die 60-jährige Fern, gespielt von der wie immer magischen Frances McDormand, in deren Gesicht sich ein Leben voller Arbeit eingegraben hat.

Die gibt es nun nicht mehr in dem kleinen Ort in Nevada, in dem Fern ihre Tage verbracht hat und der den glanzvollen Namen Empire trägt. Die Gipsmine wurde geschlossen, dann starb auch noch ihr Mann – was hält sie also in dem Kaff? Fern besteigt ihren Van und geht ohne Ziel auf die Reise in einem Roadmovie to end all Roadmovies. Nomadland eben.

Der Film der Regisseurin, die Wurzeln in China hat, schlägt durch einen elektrisierenden Gegensatz in Bann. Da ist auf der einen Seite ein überaus abstoßendes Amerika, das man gleich zu Beginn von seiner raubtierhaften Seite sieht, auch wenn diese sich hinter einem adretten gelb-roten Firmendesign und einer aufgeräumten, funktionalen Fabrikhalle verbirgt: Kurz vor Weihnachten verdingt sich Fern in einem Amazon-Fulfillment-Center; aber auch mit der Reinigung von Toiletten im Badlands National Park und dem Geschirrschrubben in einer Restaurantküche in South Dakota verdient sie das wenige Geld, das sie als weiße Nomadin im Amerika des 21. Jahrhunderts zusammenkratzen kann.

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Doch dieses Amerika hat noch ein anderes Gesicht, und dieses gehört den Gefährtinnen und Gefährten, die Fern auf Campingplätzen und Raststätten zwischen Big Sur an der kalifornischen Küste und irgendeiner gottverlassenen Weite im Landesinneren trifft. Es sind Nomaden wie sie – Chloé Zhao lässt viele von ihnen sich selbst spielen, neben den wenigen professionellen Darstellern wie Frances McDormand und David Strathairn.

Viele von ihnen haben in der großen Finanzkrise 2008 ihre Arbeit, ihre Häuser und oft auch den Rückhalt durch die Familie verloren, aber irgendwie nicht ihren Lebensmut: Auf Nomadentreffen wie dem Rubber Tramp Rendezvous kommen sie zu Tausenden zusammen, und viele haben sich zu flatterhaften Gemeinden mit ständig wechselnder Besetzung zusammengeschlossen, die einer Art von Predigern mit Alltagstipps lauschen: Fern macht die Bekanntschaft mit dem rauschebärtigen Bob Wells, der gute Ratschläge gibt, wie man sich über Wasser hält – was von Sparvorschlägen bis hin zur Wartung angejahrter Autos reicht.

Chloé Zhao porträtiert Amerika mithin in einem krassen Spannungsverhältnis. Einerseits herrscht hier der hypermoderne Kapitalismus, der sich an Börsenkursen orientiert, wobei die soziale Absicherung der Beschäftigten nur hinderlich ist. Andererseits hat sich unter den Heimatlosen dieses Landes so etwas wie der Geist von Woody Guthrie und Pete Seeger bewahrt, die am alten Wahlspruch festhalten: „This Land was made for you and me.“

Chloé Zhao stellt ihren Kampf wie diese Chronisten der Wirtschaftskrisen in den 30er Jahren ganz ohne Hobo-Romantik und vom Staub der Straße vernebelte Nostalgie dar. Die Bewohner von Nomadland sind Pragmatiker durch und durch, sie leben in einer Parallelwelt jenseits der Städte und Institutionen, die sie kurzerhand durch fahrende Unterkünfte und improvisierte Selbsthilfe ersetzen.

Chloé Zhaos Film basiert auf dem Reportagebuch „Nomadland: Surviving America in the Twenty-First-Century“, mit dem die Journalistin Jessica Bruder dokumentiert, wie weit fortgeschritten die ökonomische Zerstörung der Gesellschaft ist: Die umherfahrenden Wohnmobile sind nicht mehr dazu da, Ferienabenteuer mit dem Geschmack von Grillfleisch und der Illusion von Ungebundenheit zu garantieren, sie sind vielmehr Ausdruck zerstobener Träume, und das in einem ganz buchstäblichen Sinn. Die Immobilienblase ist geplatzt, das Konto gecrasht – jetzt rumpeln die Modernisierungsverlierer über Landstraßen und hoffen darauf, dass nicht auch noch der Motor verreckt.

„Nomadland“ ist ein bedeutender Film, denn er zeigt völlig desillusioniert, wohin es mit einem Land kommen kann, das seine Gier nicht im Griff hat. Oder vielmehr: Chloé Zhao führt ein Land vor, in dem die, die politische Verantwortung tragen, ihren Begriff von Wohlstand auf eine äußerst enge begrenzte Elite beziehen. Soll der Rest doch schauen, wo er bleibt – und sei es auf der Straße.

Das ist ein deprimierender Befund. Und doch ist „Nomadland“ kein ganz trauriger Film – weil er der amerikanischen Tugend vertraut, dass man sich selbst am Schopf packen und aus dem Sumpf ziehen kann. Hoffentlich behält er recht.