Netflix-Serie zur Tour de FranceDie Bilder wirken, aber für deutsche Radsportfans fehlt entscheidendes

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Die übrig gebliebenen Radfahrer bei der letzten Etappe der Tour de France 2022 auf der Pariser Champs-Élysée.

Die Tour de France endet traditionell in Paris. Sieger Jonas Vingegaard (im Gelben Trikot) wird auf den letzten Metern von einem seiner Teammitglieder beschützt.

Zum Start der diesjährigen Tour de France hat Netflix eine achtteilige Serie zur Rundfahrt des vergangenen Jahres herausgebracht. Dafür wurden unter anderem Kameras an den Rädern angebracht.

In Folge drei geht es über die Kopfsteinpflaster des Nordens, trocken ist es, heiß und verdammt staubig. Aber vor allem auch heimtückisch. Die Steine liegen dort seit über 100 Jahren, sie dienten als Weg für Pferdekarren, doch jetzt hetzen gerade gut 170 Radfahrer über Sektoren mit diesem quälenden Untergrund, mehr als 20 Kilometer sind es insgesamt. Das reicht, um alles zu sehen, was an einem solchen Ausflugstag in die radsportliche Hölle so passieren kann: zerstörte Träume und Maschinen, platte Reifen, Auffahrunfälle, unvermittelte Stürze, erschütternde Schmerzensschreie von Radprofis, die sich gerade irgendetwas gebrochen haben und überall pures Chaos.

All das ist, untermalt mit viel Patina und Pathos, in einer Netflix-Doku zu sehen, die sich dem Thema „Tour de France“ verschrieben hat. Der deutsche Titel lautet, schwach übersetzt: „Im Hauptfeld“. Das französische Original ist da deutlich näher am Thema: „Au coeur du peloton“, im Herzen des Rennens.

Tour de France - Im Hauptfeld: Großartige Bilder

Doch die Bilder wirken, eingefangen bisweilen von am Lenker befestigten Kameras. Landschafts-Panoramen sind zu sehen, quälende Aufstiege in den Bergen, unglaubliche Abfahrten von bis zu 100 Stundenkilometern auf Reifen, die schmaler sind als eine Fingerkuppe, die Schönheit Frankreichs in der Ebene und vor allem Menschen auf dem Rad, die ausgesetzt sind in der Topografie dieses Landes. Die Geschichten erleben und erzählen, die füreinander da sind, in diesem härtesten Teamsport, den es gibt auf der Welt. Die sich zusammenreißen, um entweder ihrem Sprinter oder ihrem Mann für die Gesamtwertung das Siegen zu ermöglichen. All das wird großartig eingefangen von Netflix, für die die Produktionsfirma QuadBox die Bilder lieferte.

Jonas Vingegaard: Tour-Sieger hautnah im Teambus

QuadBox setzt sich zusammen aus dem französischen Unternehmen Quad und der britischen Organisation Box to Box. Die wiederum hat bereits die erfolgreichen Netflix-Serien „Drive to Survive“ (Formel 1), „Breakpoint“ (Tennis) und „Full Swing“ (Golf) produziert. Nun versucht sich das Joint-Venture mit Hilfe von France Télévisions am größten Radrennen der Welt, Ausgabe 119, ausgetragen im Juli 2022. Acht Teams haben die Produzenten ausgewählt, darunter die deutsche Équipe Bora-hansgrohe und – ein Glücksfall für die Serie – Jumbo-Visma, die Mannschaft des späteren Siegers Jonas Vingegaard aus Dänemark.

Erzählt werden soll in acht Folgen der im wahrsten Sinne steinige Weg des Triumphators vom Start in Kopenhagen bis zum Ziel auf den Champs-Élysées in Paris und sein Zweikampf mit dem Slowenen Tadej Pogacar, dem Gewinner von 2020 und 2021. Großartige Innenansichten, Begleitungen im Auto von Vingegaards sportlichem Leiters Grischa Niermann, seine Ansprachen im Bus vor der Etappe und sein Fazit im Hotel danach bilden Höhepunkte der Serie. Wobei es durchaus bedauerlich ist, dass Pogacars Mannschaft UAE-Emirates Netflix nicht hat hinter die Kulissen blicken lassen. Bei UAE wollte man den finalen Schnitt der Serie sehen, was Netflix aber nicht zugelassen hat.

Jasper Philippsen: „Jasper Disaster“

Im Finden eines Erzählstrangs steckt bei einem Rennen, das derart facettenreich ist wie die Tour, naturgemäß eine große Schwierigkeit, trotz der vermeintlich klaren Vorgabe, Vingegaard zu beobachten. Entstanden ist eine Serie, die immer wieder ausführlich zurückblicken muss, um den Zuschauern zu erklären, wie und dass die aktuellen Ereignisse mit denen des Vortages zusammenhängen, die die Hauptgeschichte verlassen muss, um auch wichtige Nebenaspekte erläutern zu können. Etwa das Erwachsenwerden des jungen, zu Beginn noch sehr verspielten und oft verlierenden belgischen Sprinters Jasper Philippsen, der den leidvollen Spitznamen „Jasper Disaster“ trägt. Ehe er schließlich tatsächlich auf den Champs-Élysées, dem Gral der Sprinter, die wichtigste Etappe des Jahres für die schnellen Männer gewinnt.

Solche Geschichten gehören zur Tour, davon können vor allem die Protagonisten der beiden französischen Teams in der Serie berichten, allen voran der Chef von Groupama-FDJ, Marc Madiot. Der ehemalige Fahrer ist einerseits ein Exzentriker, der seine Profis zu Siegen brüllt und der, im Falle des Erfolgs, nicht mehr zu halten ist. Der aber andererseits ein Radsportweiser ist, der in der Serie Sätze wie diese sagt: „Im Fußball wird nach der kleinsten Verletzung ausgewechselt. Beim Radsport wechseln wir nicht. Da überleben wir.“

Tour de France Dokumentation: Kein Wort zu Doping

Das Bild vom Überleben wird immer wieder in den vielen Interviews bemüht, vor allem auch das des Leiden Könnens, des sich Quälen Müssens über alle Schmerzgrenzen hinaus. Gehöre dazu, müsse man mitbringen, ohne diese Gabe brauche niemand mit dem Radsport anzufangen, ist Madiots Credo. Aber: Die drei Worte „Gefahr durch Doping“ kommen – wenig überraschend – nicht ein einziges Mal in gut 320 Minuten vor.

Die acht Folgen schaut man am besten im französischen Original, die schriftlich eingeblendeten Übersetzungen reichen völlig aus, um dem Spektakel und den zumeist auf Englisch geführten Gesprächen folgen zu können. Denn die deutsche Version leidet an einem uninspirierten Kommentar, der auch versucht, klassische Radsport-Vokabeln einzudeutschen, was völlig misslingt. Nicht eingefangen hat das Team von Netflix zudem den verzweifelten Kampf des Deutschen Lennard Kämna auf einer Vogesenetappe, auf der er auf den letzten Metern doch noch von Pogacar und Vingegaard eingeholt wurde – und das, obwohl sein Team Bora-hansgrohe auch Teil der Besetzungsliste war. Die deutsche Mannschaft kommt jedoch nur marginal vor.

Ignoriert wird zudem das aufopferungsvolle Bemühen des Berliners Simon Geschke, der 2022 mit letzten Kräften und am Ende doch vergeblich um den Sieg in der Wertung des Bergtrikots kämpfte. Aber nun ja, Tücke der Auswahl: In diesem Fall haben sich die Produzenten verpokert. Geschkes Cofidis-Team gehörte nicht zur Besetzungsliste.

Ob es eine zweite Staffel von der Tour 2023 geben wird, ist noch offen und hängt vom Erfolg der Premiere ab, ist von Netflix zu hören.

Netflix, Tour de France – Im Hauptfeld, acht Folgen.