Virtuelle KonzerteWie uns Jean-Michel Jarre als Avatar die Zukunft zeigt

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Jean-Michel Jarre, der echte, während seines Silvester-Sets in Paris

Jean-Michel Jarre, der echte, während seines Silvester-Sets in Paris

Paris – Auf große Krisen hat der französische Synthesizer-Pionier Jean-Michel Jarre stets mit Zukunftsmusik geantwortet. Mit immersiven Elektronik-Stücken, in die seine Hörer schlüpfen konnten wie in einen gut gepolsterten Astronautenanzug, oder wie in die interplanetare Fruchtblase am Ende von „2001“. Um so behütet eine LP-Seite lang selig durchs All zu driften. Beziehungsweise, wie in der vergangenen Silvesternacht geschehen, eine knappe Konzertstunde lang ins neue, hoffnungsschwangere Jahr 2021.

Die konnte man entweder via Youtube oder Facebook verfolgen, oder, so man ein VR-Headset zur Verfügung hatte, auch direkt ins Geschehen eintauchen.

Mit seinem Auftritt als orange leuchtender Echtzeit-Avatar in der digital nachgebauten Kathedrale Notre-Dame de Paris versuchte Jean-Michel Jarre gleich zwei nationale Traumata zu heilen: Den Großbrand vom 15. April 2019, der das gewaltige Gotteshaus um ein Haar zum Einsturz gebracht hatte, und die Covid-19-Pandemie, die Frankreich mehr als doppelt so viele Opfer forderte als in Deutschland.

Und so zuckten nicht nur Stroboskop-Blitze vom Gewölbe des Gotikbauwerks, lösten sich die Rosettenfenster aus ihren Fassungen, um kaleidoskopartig durchs hohe Mittelschiff der Kirche zu drehen, oder sausten geometrische Figuren über den Köpfen der feiernden Zuschauermenge aus Second-Life-Statisten – es schwebten auch irgendwann die Säulenheiligen vom Portal rötlich angestrahlt durch die von ihnen bewachte Kathedrale. Ein kleines, wenn auch nur mäßig detailreich gerendertes Wunder.

Der real existierende Jean-Michel Jarre befand sich derweil unweit der Île de la Cité in seinem Pariser Studio und wurde immer mal wieder eingeblendet, gewissermaßen als Rückversicherung, dass, erstens, der 72-Jährige tatsächlich live musizierte, und, zweitens, dem virtuellen Event ein greifbares Double in der wirklichen Welt zugrunde liegt.

Schließlich zählten weiß strahlende Ziffern die letzten Sekunden des ungeliebten Jahres 2020 herunter, dazu spielte der Jarre-Avatar einen geradezu hektisch beschleunigten Remix seines größten Hits „Oxygène IV“, womit er direkt an seinen Karrierestart als musikalischer Krisenmanager anknüpfte.

Die Inspiration zu „Oxygène“, dem Ende 1976 erschienenen Album zur Single, mit dem Jarre der Durchbruch als Beschwörer kosmischer Klänge gelang, war ein Gemälde des Illustrators Michel Granger, das dann auch zum Cover der Schallplatte wurde.

Das Bild hatte die Schauspielerin Charlotte Rampling, Jarres zukünftige Gattin, ihm geschenkt: Es zeigt die Erde im Blauschein ihrer Atmosphäre. Sie ist wie eine überreife Blutorange aufgepellt worden, unter ihrer Haut kommt ein bleicher Totenschädel zum Vorschein.

Öko-Kitsch

Das Motiv greift in kitschiger Direktheit die ökologischen Ängste der 1970er Jahre auf, von denen wir heute wissen, dass sie nur allzu berechtigt waren. Doch die pulsierende Synthie-Musik erzählt vom unschuldigen Staunen ob der Wunder des Universums und in diesem Kontrast liegt die Langlebigkeit des Werkes begründet.

Jarres virtuelles Kirchenkonzert war auch insofern ein passender Abschluss für 2020, als das Jahr erzwungenermaßen eine Vielzahl an Auftritten generiert hat, die ausschließlich für Zuschauer an Endgeräten produziert worden waren.

Bad ohne Menge

Ein Konzert – auch da passte das sakrale Umfeld – ist ein Ritual zu dem mehr gehört, als nur die Minimaldefinition des Live-Musizierens vor Publikum. Wahrscheinlich ist das Bad in der Menge sogar noch wichtiger als das in der Aura der verehrten Künstlerin oder des Künstlers: Man ist unter Gleichgesinnten, findet den eigenen Geschmack vielhundertfach bestätigt, begibt sich in eine Art gemeinsame Trance, die durch endlos ausdifferenzierten Orchesterklang oder extrem angehobene Lautstärke bestärkt wird.

Das ist nichts, was sich am Laptop auf dem heimischen Sofa ohne weiteres nachstellen lässt. Die zahllosen Benefiz-Festivals gerade zu Anfang der Pandemie wirkten denn auch eher wie Digital-Ausgaben von „Schöner wohnen“: Man durfte ins Wohnzimmer von Lady Gaga oder in den Vorgarten von Elton John spinksen, die Neugier war befriedigt, die Musik Nebensache.

Auftritt in Fortnite

Später im Jahr entwickelten Künstler ehrgeizigere Formate, für die Fans auch zu bezahlen bereit waren: Nick Cave ging das Elend der Vereinzelung frontal an, verzichtete nicht nur auf das Publikum, sondern auch auf seine Band und trat allein am Klavier im leeren Londoner Alexandra Palace auf. Billy Eilish und Dua Lipa, die derzeit relevantesten Popstars, organisierten einmalige Online-Shows, die ganz auf das Bildschirm-Format zugeschnitten waren.

Der zukunftsträchtigste Auftritt aber gelang Travis Scott im April: Der Rapper gab ein Konzert im Online-Spiel Fortnite. Fans nahmen mit ihren eigenen Avataren an dem Ereignis teil, Scott erschien als Riese in der künstlichen Spielewelt, stapfte wie Gulliver von Insel zu Insel, stieß Blitze aus und ließ Feuer regnen. Ein Gott, dem jede Kathedrale zu klein war.

Im Vergleich dazu sah Jean-Michel Jarres Silvester-Set in Notre-Dame dann doch ziemlich alt aus: Die Geschichte des virtuellen Konzertes, sie hat gerade erst begonnen.