Familie Genç zum Solingen-Anschlag„Dürfen nicht zulassen, dass die Kräfte des Hasses triumphieren“

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Kerzen und Blumen stehen in der Innenstadt von Solingen.

Kerzen und Blumen stehen in der Innenstadt von Solingen. Am Freitagabend waren bei einem Stadtfest im nordrhein-westfälischen Solingen drei Menschen mit einem Messer getötet worden.

Der jüngste Terroranschlag in Solingen reiße alte Wunden auf, schreibt die Familie Genç in einer Stellungnahme. Bei einem Brandanschlag im Jahr 1993 wurden fünf Mitglieder der Familie getötet.

Die Familie Genç hat den Messerangriff auf dem Solinger Stadtfest mit drei Toten und acht Verletzen als „abscheulichen Akt des Terrors“ verurteilt. „Wir wissen aus eigener, schmerzlicher Erfahrung, wie unermesslich dieser Verlust ist und wie tief die Wunden gehen, die Betroffenen durch solche Taten zugefügt werden“, schreibt die Familie am Dienstagnachmittag in einer Stellungnahme des Verein „Mevlüde Genç“. In dem Brief ruft die Familie zu Versöhnung und Verständigung auf. Bei einem rechtsextremen Brandanschlag wurden 1993 fünf Mitglieder der Familie Genç getötet.

„Wir sind zutiefst betroffen von dem jüngsten Terroranschlag in der Stadt“, heißt es in dem Brief. Solche Gewalttaten dürften niemals einen Platz in der Gesellschaft haben und niemals toleriert werden. „Es ist ein Angriff auf uns alle, auf die Menschlichkeit und die Werte, die wir teilen.“ Der Terroranschlag reiße alte Wunden auf und lasse Erinnerungen an den Anschlag von 1993 aufleben. „Doch so sehr es schmerzt, dürfen wir nicht zulassen, dass die Kräfte des Hasses und der Gewalt triumphieren“, schreibt die Familie. Sie appelliert, nicht in einen Diskurs des „wir“ und „ihr“ zu verfallen – es könne nur ein „wir“ geben.

„Lasst uns in Liebe zusammenstehen, gegen den Hass“

„Das Ziel solcher Anschläge ist klar: Sie sollen uns spalten, uns gegeneinander aufhetzen und uns in ein Klima des Misstrauens und der Angst stürzen. Doch wir dürfen uns diesem Diktat des Hasses nicht beugen“, so die Familie Genç. Das könne nur gemeinsam geschehen. „Wir haben aus der Solidarität der Menschen, ganz besonders der Menschen in Solingen, über die Jahre sehr viel Kraft geschöpft. Wir sind überzeugt, dass wir auch in diesen schrecklichen Zeiten zusammenstehen werden.“

Mevlüde Genç, die bei dem Brandanschlag Töchter, Enkeltöchter und eine Nichte verlor, hätte gelehrt, dass es nicht viele seien, die Hass säen, sondern wenige. Diese wenigen dürften nicht die Macht erhalten, die Gesellschaft zu definieren. „Unsere Mutter hat nie verallgemeinert“, schreibt die Familie. „Für sie waren es damals, wie auch heute, einzelne Täter, die für ihre Taten verantwortlich sind. Sie repräsentieren nicht die Mehrheit der Menschen, die in Frieden und mit Respekt füreinander leben wollen.“

Die Familie ruft zu Versöhnung und Verständigung auf. „Denn wie unsere Mutter uns immer zu erinnern pflegte: ‚Liebe lässt den Menschen leben, aber Hass bringt den Tod‘“, schließt sie. „Lasst uns in dieser Liebe zusammenstehen, gegen den Hass, für eine gemeinsame Zukunft in Frieden und Verständigung.“

IS reklamiert Anschlag auf Stadtfest für sich

Am Freitagabend stach ein Mann auf dem Solinger Stadtfest scheinbar wahllos auf Besucher ein und tötete drei Menschen. Am späten Samstagabend stellte sich der mutmaßliche Täter, ein 26-jähriger Syrer, der Polizei. Die Ermittler gehen von einem islamistischen Motiv aus, die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) reklamierte die Tat für sich.

Vor 31 Jahren, am 29. Mai 1993, warfen Rechtsextremisten Brandsätze auf das Haus der Genç in Solingen. Fünf Familienmitglieder starben in dem Feuer: Gürsun (26), Hatice (18), Hülya (9), Sayime (4) und Gülüstan (12). 14 weitere Menschen erlitten teils lebensgefährliche Verletzungen. Es war ein Tiefpunkt der rassistischen Gewalt in Deutschland, nach den Angriffen von Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und Mölln.

Durch den Terroranschlag wurde Mevlüde Genç, die vorher ein zurückgezogenes Leben führte, zur Friedensbotschafterin wider Willen. Unermüdlich rief sie zu Versöhnung auf und wurde für ihr gesellschaftliches Engagement mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz und dem Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen. Die Landesregierung rief 2018 die Mevlüde-Genç-Medaille ins Leben. Der Preis wird an Menschen oder Gruppen verliehen, die sich für Verständigung und Toleranz einsetzen. Mevlüde Genç starb 2022 im Alter von 79 Jahren in Solingen.