Sexarbeiterin im Interview„Viele Prostituierte können in ihrer Not nicht widerstehen“

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Die Straßenprostituierte Nicole Schulze

  • Das Coronavirus hat Auswirkungen auf fast alle Branchen. Dazu gehört auch die Straßenprostitution.
  • Die 40-jährige Nicole Schulze ist Sexarbeiterin und Sprecherin der Straßenprostituierten beim „Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen“.
  • Sie erzählt uns, wie sich die aktuelle Lage auf den von ihr ausgeübten Beruf auswirkt.

Köln – Nicole Schulze ist 40 Jahre alt und arbeitet seit 16 Jahren als Sexarbeiterin, unter anderem in Köln.

Frau Schulze, Sie arbeiten als Straßenprostituierte. Wie stellt sich die Situation Ihrer Branche derzeit dar?

Schulze: Die Lage ist sehr schwierig. Ich selbst arbeite seit 16 Jahren auf der Straße, normalerweise in einem Wohnwagen, unter anderem auch in Köln. Im Moment aber treffe ich wegen der Ansteckungsgefahr keine Kunden. Mein Verdienst ist auf Null. Noch kann ich den Ausfall überbrücken, aber nicht mehr lange. Allerdings gibt es Frauen, die auch jetzt noch ihre Dienste anbieten.

Trotz des Risikos?

Schulze: Ja, weil sie oftmals keine Wahl haben. Straßenprostituierte sind keine High-Class-Escort-Damen, die ganz andere Honorare verlangen können. Es sind Frauen, die meist keine Rücklagen haben und auch jetzt Miete zahlen und natürlich essen müssen. Sie sind in einer absoluten Notlage. Hinzu kommt, dass viele auch drogenabhängig sind. Einige von ihnen sind gerade auf kaltem Entzug, da sie sich die Beschaffung nicht mehr leisten können. Gerade solche Frauen sind offen für unmoralische Angebote.

Inwiefern?

Schulze: Wenn eine Frau normalerweise vielleicht 100 Euro in der Stunde nimmt, bieten die Männer manchmal bis zu 500 Euro für ein Treffen an. Viele Frauen können da in ihrer Not nicht widerstehen. Sie machen es einfach und nehmen das Risiko in Kauf.

Das Risiko ist die eine Sache, allerdings ist Prostitution derzeit auch verboten. Wer erwischt wird, muss hohe Strafen zahlen.

Schulze: Bestrafung muss sein, keine Frage. Aber ob es sinnvoll ist, dass gerade diese Frauen, die ohnehin aus einer finanziellen Notlage heraus handeln, mit Geldstrafen von bis zu 5000 Euro belangt werden, darf bezweifelt werden. In Bonn und Hamburg beispielsweise ist das schon passiert. Der Effekt aber wird sein, dass die Frauen erst recht anschaffen gehen werden, weil sie nun auch noch dieses Geld bezahlen müssen. Das kann keine Lösung sein.

Aber wie bieten sich die Frauen überhaupt an? Ordnungsamt und Polizei kontrollieren natürlich die einschlägig bekannten Orte.

Schulze: Köln ist für Straßenprostituierte sowieso ein Sperrbezirk. Die von der Stadt überwachten Verrichtungsboxen an der Geestemünder Straße sind derzeit natürlich stillgelegt. Auch an der Brühler Landstraße, wo die Frauen sonst mit ihren Wohnwagen stehen, passiert im Moment nichts. Aber es gibt mindestens zwei Orte, an denen Straßenprostitution in Köln noch immer stattfindet. Auch dort wird zwar kontrolliert, aber auf der Straße rumstehen ist ja noch kein Verstoß. Wenn das Ordnungsamt kommt und es gerade keine Anbahnung mit einem Kunden gibt, sagen die Frauen einfach, dass sie sich die Beine vertreten.

Zur Person

Nicole Schulze, 40, arbeitet seit 16 Jahren als Sexarbeiterin unter anderem in Köln. Sie ist Sprecherin der Straßenprostituierten beim „Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen“.

In Zeiten von Corona floriert in vielen Branchen vor allem das Online-Geschäft. Wie ist das mit der Prostitution?

Schulze: Wenn Sie das Geschäft mit Webcam-Sex meinen: Für Frauen aus der Straßenprostitution ist das keine Option. Sie haben weder die Ausstattung wie Computer, Kamera oder eine schnelle Internetleitung noch die technischen Fertigkeiten. Ich selbst bin froh, dass ich mein Smartphone halbwegs sicher bedienen kann. Es ist allerdings nicht nur die mangelnde Technik. Beim Webcam-Sex müssen Frauen ein gewisses Aussehen mitbringen. Frauen, die auf der Straße arbeiten und eine Drogen- oder Alkoholproblematik haben, kommen dafür meist nicht infrage.

Einige bieten jetzt Telefonsex an, auch wenn sie das nicht wirklich gerne machen. Gerade für die vielen Migrantinnen aus Osteuropa, die die deutsche Sprache nicht beherrschen, ist allerdings selbst das nicht möglich. Sie haben oft keinen gemeldeten Wohnsitz in Deutschland und beziehen daher nicht einmal eine Grundsicherung. In ihre Heimatländer kommen sie nicht zurück, weil die Grenzen zu sind. Für sie ist es derzeit besonders hart.

Bekommen diese Frauen irgendwo Hilfe?

Schulze: Ich engagiere mich als Sprecherin der Straßenprostituierten beim „Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen“. Hier versuchen wir Unterstützung zu organisieren. Viele Frauen haben kein Obdach oder sie verlieren es gerade. Wir konnten erreichen, dass sie in den Bordellen, die ja gerade geschlossen sind, Übernachtungsmöglichkeiten bekommen. Das Prostituiertenschutzgesetz verbietet das eigentlich, da Frauen nicht im gleichen Zimmer arbeiten und wohnen dürfen. Ich habe außerdem ein Spendenkonto eingerichtet.

Knapp 6000 Euro sind in den letzten drei Wochen zusammengekommen. Das ist natürlich nicht sehr viel, aber immerhin können wir damit ein paar Frauen helfen. Das Geld kommt übrigens nicht von den Kunden. Gespendet haben vor allem ganz normale Menschen, die einfach helfen wollen. Aber auch für unsere Branche gilt: Sehr viel länger können wir das Verbot finanziell nicht verkraften.

Was würden sie im Fall einer Verlängerung des Sexarbeitsverbots tun?

Schulze: Ich habe vor etwa zwei Wochen beim Land den Antrag auf Soforthilfe gestellt. Eine Antwort habe ich leider noch nicht erhalten. Vielleicht würde ich den Beruf wechseln und in die Altenpflege gehen. Aber auch das wäre nur für wenige meiner Kolleginnen vorstellbar.

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Haben Sie Erfahrung in diesem Bereich?

Schulze: Nicht direkt. Aber ich biete als Prostituierte auch Dienste als Sexualassistentin an. Das heißt, ich besuche beispielsweise behinderte Menschen zuhause, aber auch alte Menschen in Heimen. Das sind überwiegend demenzkranke Männer. Meist werde ich von Angehörigen oder dem Pflegpersonal beauftragt, da diese Patienten häufig übergriffig werden und Pflegerinnen wahrscheinlich unbewusst belästigen. Bei einem dieser Stammkunden war ich das letzte Mal vor vier Wochen. Es hatte damals lange gedauert, dass er Vertrauen zu mir aufgebaut und verstanden hat, warum ich überhaupt zu ihm komme. Ich befürchte, dass er sich jetzt gar nicht mehr an mich erinnert.