AfghanistanTaliban stehen nur noch 50 Kilometer vor Kabul – USA greifen ein

Lesezeit 4 Minuten
Afghanistan Sicherheitspersonal

Afghanischer Soldat in Herat

Washington, Kabul, Herat – Die radikalislamischen Taliban sind in Afghanistan weiter auf die Hauptstadt Kabul vorgerückt. Am Freitag eroberten sie die Provinzhauptstadt Pul-i-Alam, die nur 50 Kilometer südlich von Kabul liegt, wie ein Regionalparlamentarier der Nachrichtenagentur AFP sagte. Pul-i-Alam ist die Hauptstadt der Provinz Logar. Durch die Eroberung dieser Stadt öffneten sich die Islamisten einen Zugang für den weiteren Vormarsch in Richtung Kabul. Die Taliban hätten die Kontrolle über Pul-i-Alam „zu 100 Prozent“ übernommen, sagte der Abgeordnete Said Karibullah Sadat. Die Islamisten hätten alle Regierungseinrichtungen in der Stadt eingenommen. Es gebe derzeit in Pul-i-Alam keine Kämpfe mehr. 

Auch Kandahar, die zweitgrößte Stadt Afghanistans, ist an die militant-islamistischen Taliban gefallen. Die wichtigsten Regierungseinrichtungen von Kandahar im Süden des Landes seien in den Händen der Islamisten, bestätigten zwei Parlamentarier und ein Provinzrat der Deutschen Presse-Agentur am Freitag. 

USA entsenden zusätzliches Militär

Die Taliban haben am Freitag zudem die wichtige Stadt Laschkargah in der Provinz Helmand im Süden des Landes eingenommen. Die Islamisten kontrollierten die wichtigsten Regierungseinrichtungen der Stadt mit geschätzt 200.000 Einwohnern. Das bestätigten zwei afghanische Provinzräte der Deutschen Presse-Agentur am Freitag

Am Donnerstag verkündeten die USA, rund 3000 zusätzliche Soldatinnen und Soldaten zeitweise nach Afghanistan verlegen, um die Sicherheit am Flughafen Kabul zu verstärken. Es gehe darum, die Reduzierung des US-Botschaftspersonals zu unterstützen, erklärte der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, John Kirby, am Donnerstag. Diese könne auch die Sicherung von Konvois von und zum Flughafen umfassen, sagte er. Die Truppen könnten das Außenministerium auch bei der Evakuierung früherer afghanischer Mitarbeiter des US-Militärs unterstützen.

Die zeitweise Verstärkung sei angesichts des jüngsten Vormarsches der militant-islamistischen Taliban in Teilen Afghanistans eine Vorsichtsmaßnahme, sagte Kirby. Die Verstärkung sei angesichts der sich rasch verschlechternden Sicherheitslage „angemessen“, sagte er. Das US-Militär will das Land eigentlich bis Ende August verlassen. Zurückbleiben sollen dem Vernehmen nach nur einige Hundert Soldaten - vor allem um die US-Botschaft zu schützen.  

Herat an Taliban gefallen

Zuvor ist auch die drittgrößte Stadt Afghanistans an die militant-islamistischen Taliban gefallen. Die wichtigsten Regierungseinrichtungen von Herat im Westen des Landes seien in den Händen der Islamisten, bestätigten drei lokale Behördenvertreter der Deutschen Presse-Agentur am Donnerstag. Erst am Donnerstagmorgen (Ortszeit) war die strategische Stadt Gasni im Südosten gefallen. 

Dem Fall der historischen Stadt Herat mit geschätzt 600 000 Einwohnern waren wochenlange Angriffe auf die Stadt vorausgegangen. Die Taliban konnten zunächst von den Sicherheitskräften und Milizen des dort heimischen Politikers und ehemaligen Kriegsfürsten Ismail Chan in Schach gehalten und teils auch wieder zurückgedrängt werden.

Zunehmende Gefechte

Provinzräte berichteten seit Donnerstagnachmittag (Ortszeit) von zunehmenden Gefechten in Herat. Die Taliban seien aus dem Osten in die Stadt vorgedrungen und bis zu 200 Meter an den Gouverneurssitz gelangt. Die Milizen von Ismail Chan seien im Westen der Stadt damit beschäftigt gewesen, einen Angriff der Islamisten abzuwehren. Auch vom Norden seien sie vorgerückt, sagte ein weiterer Provinzrat.

Am Donnerstagabend (Ortszeit) seien schließlich der Gouverneurspalast, das Polizeihauptquartier und das Gefängnis unter Kontrolle der Taliban gewesen. Die Islamisten hätten, wie schon in anderen von ihnen eroberten Städten, die Gefangenen freigelassen. Die Sicherheitskräfte hätten nicht gekämpft, erklärte der Provinzrat Ghulam Habib Haschimi.

Nur die kürzlich von Ismail Chan zusammengesammelten Kräfte des Volksaufstandes hätten sich gegen die Übernahme der Stadt gewehrt, sagte Haschimi weiter. Der Gouverneur und andere Offizielle hätten sich in eine Militärbasis in der Nähe des Flughafens zurückgezogen. Es war unmittelbar nicht klar, wo sich Ismail Chan befand, der als einer der Führer der Nordallianz 2001 den USA geholfen hatte, die Taliban zu vertreiben.

Soziale Medien genutzt

In den vergangenen Wochen waren die Taliban laut lokalen Behördenvertretern immer wieder für Kurzangriffe in die Stadt eingedrungen und hätten sich dann sofort wieder zurückgezogen. Damit und mit in sozialen Medien verbreiteten Selfies von sich in der Stadt hätten sie Schrecken unter den Bürgern verbreitet, sagte der Sprecher des Gouverneurs der Provinz von Herat.

Erst am Donnerstagvormittag (Ortszeit) war die strategische Stadt Gasni im Südosten des Landes an die Taliban gefallen. Am Donnerstagabend (Ortszeit) gab es erste Berichte über eine mögliche Eroberung der zweitgrößten Stadt des Landes, Kandahar, durch Islamisten. Diese Eroberung ist inzwischen bestätigt. Die Telefonverbindungen in die Provinz funktionierten nicht.

Mit der Stadt Herat sind in weniger als einer Woche 11 der 34 Provinzhauptstädte an die Islamisten gefallen. Der überwiegende Teil davon liegt im Norden des Landes. Gasni liegt von all den gefallenen Städten Kabul am nächsten.

Das könnte Sie auch interessieren:

Seit dem Beginn des US- und Nato-Truppenabzugs der USA Anfang Mai haben die Taliban massive Gebietsgewinne verzeichnet. Die Islamisten hatten von 1996 bis zur US-geführten Intervention 2001 weite Teile Afghanistans unter ihrer Kontrolle. Inzwischen ist der Abzug zu mehr als 95 Prozent abgeschlossen. Auch die deutsche Bundeswehr und die Soldaten anderer Nato-Länder haben Afghanistan bereits verlassen.

Angesichts dieses rasanten Eroberungszuges rechnen US-Geheimdienste einem Medienbericht zufolge damit, dass die Hauptstadt Kabul in 30 bis 90 Tagen in die Hände der Islamisten fallen könnte, berichtete die „Washington Post“ diese Woche unter Berufung auf nicht genannte Quellen in den US-Geheimdiensten. (dpa/red)