Impfpflicht ab 60 gescheitert„Hohe Impfquote in weiter Ferne“ – Verbände enttäuscht

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Lauterbach Impfpflicht 070422

Karl Lauterbach hatte eine Impfpflicht befürwortet. 

Berlin – Der Entwurf für die Einführung einer allgemeinen Corona-Impfpflicht in Deutschland ist im Bundestag gescheitert. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte für die Impfpflicht gekämpft und reagierte besorgt im Hinblick auf den Herbst. Auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und der Sozialverband Deutschland (SoVD) äußerten sich enttäuscht.

Den Vorschlag für eine Pflicht zunächst ab 60 Jahren lehnten am Donnerstag 378 Abgeordnete ab, dafür votierten 296 Abgeordnete und neun enthielten sich. Für eine allgemeine Impfpflicht als Vorsorge für den Herbst hatte sich auch Kanzler Olaf Scholz (SPD) ausgesprochen. Wegen offenkundiger Meinungsverschiedenheiten hatte die Ampel-Koalition dazu aber keinen Regierungsentwurf eingebracht. Abgestimmt wurde daher weitgehend ohne die sonst üblichen Fraktionsvorgaben.

Um eine Mehrheit zu erreichen, hatten Abgeordnete aus SPD, FDP und Grünen noch einen Kompromiss-Entwurf vorgelegt. Dafür weichten die Befürworter einer Impfpflicht ab 18 Jahren ihren Vorschlag auf und einigten sich mit einer Abgeordnetengruppe, die für eine mögliche Impfpflicht ab 50 eintrat, auf eine gemeinsame Initiative. Dieser Vorschlag wurde als einziger ausgearbeiteter Gesetzentwurf zur Abstimmung gestellt, verfehlte aber eine Mehrheit.

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Impf-Kampagne ist zum Erliegen gekommen

Konkret sahen die Pläne vor, dass für alle ab 60 Jahren eine Pflicht kommen sollte, bis zum 15. Oktober über einen Impf- oder Genesenennachweis zu verfügen. Für 18- bis 59 Jährige, die nicht geimpft sind, sollte zunächst eine Beratungspflicht kommen. Über die Pflichten, Beratungs- und Impfangebote sollten die Krankenkassen bis 15. Mai die Bürger informieren.

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Seit Beginn der Pandemie war eine allgemeine Impfpflicht lange über Parteigrenzen hinweg ausgeschlossen worden. Angesichts schleppender Impfungen sprachen sich Ende vergangenen Jahres Scholz und die Ministerpräsidenten doch dafür aus. Aktuell haben mindestens 63,2 Millionen Menschen oder 76 Prozent aller Einwohner den Grundschutz mit der nötigen zweiten Spritze. Die Impf-Kampagne ist aber nahezu zum Erliegen gekommen. Bereits seit Mitte März greift eine Impfpflicht für Beschäftigte in Kliniken und Pflegeheimen.

FDP-Mitglieder begründen Nein zum Antrag

Die FDP-Spitze erläuterte in einer langen schriftlichen Erklärung ihr Nein bei der Abstimmung im Bundestag. Im Moment lasse sich eine Impfpflicht „nicht ausreichend gut begründen“, heißt es darin. Unterschrieben wurde die Erklärung von allen vier Bundesministern - Christian Lindner (Finanzen), Marco Buschmann (Justiz), Bettina Stark-Watzinger (Bildung), Volker Wissing (Verkehr) - und von weiteren führenden FDP-Politikern wie Fraktionschef Christian Dürr und dem designierten Generalsekretär Bijan Djir-Sarai.

In der Erklärung heißt es: Bei den aktuellen Virus-Varianten wäre eine Impfpflicht nur gerechtfertigt, wenn eine Überlastung des Gesundheitssystems drohen und diese durch eine Impflicht verhindert werden würde. „Für eine solche Gefahr haben wir im Moment – glücklicherweise – trotz sehr hoher Inzidenzen keine Anhaltspunkte.“

Auch das Argument, die Einführung einer Impfpflicht heute könne garantieren, dass es im Herbst keiner Corona-Schutzmaßnahmen mehr bedürfe, wiesen die FDP-Politiker zurück. „Dieses Versprechen kann nach unserer Überzeugung heute niemand sicher abgeben.“ Denn das Virus mutiere schnell. 

Lauterbach zeigt sich besorgt mit Blick auf den Herbst

In der Aussprache unmittelbar vor der Abstimmung im Bundestag hatten sich Befürworter und Gegner einer allgemeinen Impfpflicht einen heftigen Schlagabtausch geliefert. 

Nach dem Scheitern des Antrags sagte Lauterbach, er hotte trotz des Neins des Bundestages weiter, dass es doch noch zu einer solchen Regelung kommt. „Um unnötige Opfer im Herbst zu vermeiden, sollte der Versuch nicht aufgegeben werden, bis dahin trotzdem eine Impfpflicht zu erreichen“, erklärte Lauterbach am Donnerstag in Berlin. „Man darf nie aufgeben, wenn es um das Leben anderer Menschen geht“, fügte der Minister hinzu. „So denke ich als Arzt, so denke ich als Politiker.“

Der SPD-Politiker schrieb auf Twitter: „Es ist eine sehr wichtige Entscheidung, denn jetzt wird die Bekämpfung von Corona im Herbst viel schwerer werden.“

Die Grünen-Fraktion äußerte sich ebenfalls enttäuscht. Sie machte die Union wesentlich dafür verantwortlich. „Das parteipolitische Taktieren der Union in dieser wichtigen Frage ist nicht nachvollziehbar und kann erhebliche Folgen für den Herbst haben“, sagte die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Irene Mihalic.

Arbeitgeber und Handelsverband bedauern Scheitern im Bundestag

Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger erklärte: „Das ist kein guter Tag für die Pandemiebekämpfung.“ Impfen bleibe ein „zentraler Baustein im Kampf gegen die Pandemie“. Wer geimpft sei, schütze nicht nur sich und seine Mitbürgerinnen und Mitbürger, durch Impfungen ließen sich auch „einschneidende Beschränkungen von wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Leben“ vermeiden, fuhr der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) fort.

Dulger erklärte dazu, gerade wenn nun vorerst keine Impfpflicht komme, sei es „umso wichtiger, dass jeder seinen Beitrag für eine möglichst hohe Impfquote leistet“. Auch ohne Pflicht „müssen wir alle die Ärmel hochkrempeln und anpacken“. Betriebe und Unternehmen seien bereit, durch das betriebsärztliche Impfen ihren Teil beizutragen. „Wir brauchen nach einer österlichen Denkpause eine konzertierte Aktion von Bund, Ländern, Kommunen und Sozialpartnern für das Impfen.“

Der Handelsverband Deutschland reagierte ebenfalls enttäuscht. Hauptgeschäftsführer Stefan Genth erklärte: „Aus Sicht des Handels ist eine hohe Impfquote nach wie vor das vielversprechendste Mittel, um zu verhindern, dass wir im kommenden Herbst wieder vor ähnlichen Herausforderungen und Maßnahmen wie in den vergangenen beiden Jahren stehen.“ Der Handel werde jetzt erst recht weiter mit voller Kraft daran arbeiten, noch mehr Menschen von den Vorteilen einer Impfung zu überzeugen. „Wir ruhen uns nicht auf den im Rahmen der Kampagne bereits verimpften eine Million Impfdosen aus und werden weiterhin vor allem in Einkaufszentren Impfaktionen anbieten. Jetzt liegt es in der Verantwortung jedes einzelnen, seinen Beitrag zu einer dauerhaften Normalisierung des täglichen Lebens zu leisten und sich impfen zu lassen.“ 

Verbände reagieren enttäuscht auf Scheitern der Impfpflicht

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) reagierte enttäuscht auf das Scheitern der Impfpflicht-Regelung. Die Corona-Impfpflicht sei von den Fraktionen „zerredet und zur parteitaktischen Manövriermasse“ gemacht worden, sagte der Vorstandsvorsitzende der Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, der Düsseldorfer „Rheinischen Post“ (Freitagsausgabe). „Schlussendlich stehen wir jetzt vor einem Scherbenhaufen, den alle Parteien zu verantworten haben“, sagte Gaß. Dies gelte „sowohl hinsichtlich der Impfkampagne, als auch der Akzeptanz der Bevölkerung für politische Entscheidungen“.

Das Scheitern der Impfpflicht lastete Gaß insbesondere der Bundesregierung an, die es versäumt habe, dem Bundestag einen eigenen mehrheitsfähigen Antrag vorzulegen. Gaß forderte die Parteien in Bund und Ländern auf, sich schon jetzt auf die Situation im Herbst vorzubereiten. „Wir müssen dann wieder mit steigenden Infektionszahlen rechnen“, sagte er. „Denn das Schlimmste wäre, wieder so unvorbereitet in eine Welle zu geraten wie im vergangenen Jahr.“

Auch der Sozialverband Deutschland (SoVD) zeigte sich enttäuscht von dem Abstimmungsergebnis und warnte vor den Folgen. „Damit rückt das Ziel einer notwendigen, hohen Impfquote in der Gesamtbevölkerung in weite Ferne“, erklärte SoVD-Präsident Adolf Bauer. „Nun wird uns bis zum Herbst erneut die Frage begleiten, ob wir ohne eine allgemeine Impfpflicht ausreichend für die pandemiebedingten Herausforderungen in den kommenden Herbst- und Wintermonaten gewappnet sind.“ Der SoVD-Präsident appelliert an die Abgeordneten des Bundestages und die Bundesregierung: „Die Gespräche und Debatten dürfen nicht enden, sondern müssen jetzt erst Recht intensiviert und weiter für die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht gegen das Coronavirus fortgesetzt werden.“  (dpa, afp)