Zehn-Jahres-Tief bei GeburtenrateWarum in NRW so wenige Kinder zur Welt kamen

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Babys liegen zusammen auf der Neugeborenenstation im Krankenhaus.

In NRW werden seit Corona wieder weniger Kinder geboren. (Symbolbild)

Die Zahl der neugeborenen Babys ist in Nordrhein-Westfalen erneut gesunken. Eine Nachbargemeinde von Köln stemmt sich gegen den Trend.

Ginge es nur ums Wünschen, sagt Martin Bujard, müsste man sich um die Bevölkerungsstatistik keinerlei Gedanken machen. Gut 90 Prozent aller jungen Erwachsenen streben an, Eltern zu werden. Intendierte Kinderzahl im Schnitt: 1,9. Die Rate ist seit Jahrzehnten stabil, das ist auch in Nordrhein-Westfalen nicht anders. Dass die Häufigkeit von Babygebrabbel im Land dennoch abnimmt, liegt an der Kluft zur Realität und dass im Leben dauernd etwas dazwischen kommt.

Der Kinderwunsch, sagt der Forschungsdirektor am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, ist jedenfalls gerade im vergangenen Jahr von vielen Menschen wieder aufgeschoben worden. In Nordrhein-Westfalen sind deshalb 2023 so wenige Kinder auf die Welt gekommen wie seit etwa zehn Jahren nicht mehr. Rund 156.270 Geburten habe es im vergangenen Jahr gegeben, teilte das Statistische Landesamt in dieser Woche mit. Das seien 5,0 Prozent weniger als im Jahr zuvor und sogar 10,9 Prozent weniger als im Jahr 2021.

Geburtenrate sinkt in NRW: Düsseldorf verzeichnet höchste Rückgänge

Die höchsten Rückgänge gab es den vorläufigen Zahlen zufolge in Düsseldorf (−11,4 Prozent), Wuppertal (−11,2 Prozent) und Herne (−11,1 Prozent). Die endgültigen Ergebnisse der Geburtenstatistik will das Statistische Landesamt im Juni veröffentlichen.

Überrascht ist der Bevölkerungsforscher Bujard von den Zahlen nicht. Deutschlands Geburtenrate sei schon im Januar 2022 „massiv eingebrochen“. Als Grund dafür zeigt Bujards Forschung: „Im Frühjahr 2021 waren die ersten Corona-Impfstoffe für die breite Bevölkerung auf dem Markt. Schwangere, so hieß es allerdings, dürften nicht geimpft werden. Das führte dazu, dass Frauen, die geimpft werden wollten, ihren Kinderwunsch erstmal zurückstellten“, sagt Bujard gegenüber dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.

Impfstoff-bedingte Geburtenkrise

Von dieser Impfstoff-bedingten Krise hätten sich die Geburtenzahlen bis heute nicht erholt. „Nach dem Impfen kam das Reisen, das nach den Lockdowns endlich wieder möglich war. Anschließend kam es zu großen Verunsicherungen wegen Inflation und Ukraine-Krieg.“ Und – dieser Zusammenhang zieht sich durch die Jahrzehnte der Bevölkerungsforschung – ökonomische Krisen haben einen negativen Effekt auf die Geburtenzahlen. Je schlechter die wirtschaftliche Stimmung, desto seltener entscheiden sich Menschen für Nachwuchs. Zumindest in Gesellschaften, in welchen ungewollte Schwangerschaften verhütet werden können.

Größere Lücken in den Sozialsystemen

Deutschlands Geburtenrate sank laut Statistischem Bundesamt also schon im Jahr 2022 von 1,57 Geburten pro Frau auf 1,46. „Das hört sich erstmal nicht dramatisch an. Aber ein Rückgang von 0,1 macht etwa 50.000 Kinder weniger im Jahr aus“, sagt Bujard. Innerhalb von ein paar Jahren summiere sich das schnell auf mehrere hunderttausend Menschen, die später wiederum auf dem Arbeitsmarkt fehlten und immer größere Lücken in die Sozialsysteme rissen.

Martin Bujard vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung

Martin Bujard vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung hat erforscht, dass familienpolitische Maßnahmen nach französischem oder skandinavischem Vorbild die Geburtenrate steigen lassen.

Ein Gegensteuern tue also Not. Die gute Nachricht: In der jüngeren Vergangenheit sei eine Trendumkehr schon einmal gelungen. Nach Jahrzehnten der Geburtenflaute, habe sich Deutschland in den 2010er Jahren babyzahlenmäßig wieder ins europäische Mittelfeld vorangerobbt. Die Geburtenrate, die seit Mitte der 1970er Jahre zwischen 1,3 und 1,4 Kindern pro Frau dahindümpelte, erholte sich und stieg zwischenzeitlich laut Bevölkerungsforscher gar auf eine Rate von 1,6.

Jede vierte Akademikerin bleibt kinderlos

Martin Bujard führt diesen Erfolg auch auf die verbesserte Familienpolitik zurück. Seit 2004 sei deutlich mehr Geld in den Ausbau der Kita-Plätze geflossen, 2013 folgte gar der Rechtsanspruch auf eine Betreuungsmöglichkeit für Kleinkinder. Auch das Elterngeld habe Menschen geholfen, ihren Kinderwunsch in die Realität umzusetzen. „Ohne Kita-Betreuung und einer Grundschule bis mittags erschien gerade Akademikerinnen der Preis für die Karriere lange als zu hoch“, sagt Bujard. Durch die verbesserten Möglichkeiten, Beruf und Kinder zu vereinbaren, schaffte man es in Deutschland, die Kinderlosigkeit gerade bei Akademikerinnen zu verringern. Statt knapp jeder dritten blieb 2020 nur noch jede vierte Frau dieses Bildungsniveaus kinderlos.

Beim Kampf gegen die sinkende Geburtenrate sei die Kinderlosigkeit in der Gesellschaft allerdings gar nicht der entscheidende Faktor. Bujard hat berechnet, dass das Geburtenminus zu zwei Dritteln auf den Rückgang kinderreicher Familien zurückzuführen ist. „Es gibt in Deutschland immer weniger Familien, die drei oder vier Kinder bekommen“, sagt Bujard.

Frankreich und Skandinavien – familienpolitische Musterknaben

In Frankreich, familienpolitisch ebenso wie Skandinavien für den Bevölkerungsforscher ein absoluter Musterknabe, lägen die Dinge anders. Dort entschieden sich auch beruflich erfolgreiche Frauen für drei und mehr Kinder. „Die Vereinbarkeit ist in Skandinavien einfach besser. Auch kulturell. Um Karriere zu machen, muss dort niemand bis 19 Uhr am Schreibtisch sitzen. Politisch werden kinderreiche Familien in Frankreich sehr unterstützt. Mit dem dritten Kind steigt beispielsweise die steuerliche Entlastung spürbar. Die Kinderbetreuung ist so zuverlässig und verbreitet, dass 75 Prozent der Mütter von mindestens einem Kind unter drei Jahren in Vollzeit arbeiten.“

Zwar ging die Krisenstimmung der vergangenen Jahre auch an der französischen Geburtenrate nicht spurlos vorüber, dennoch lag sie mit knapp 1,8 im Jahr 2022 immer noch klar über dem europäischen Durchschnitt.

Für Bujard ist die Aufgabenstellung an die deutsche Politik damit klar: „Wir müssen den Pfad weitergehen und Menschen die Entscheidung für Kinder durch eine verlässliche Kinderbetreuung und ein familienfreundliches Klima am Arbeitsplatz erleichtern.“ Diese Aufgabe zu priorisieren und finanziell zu unterstützen, lohne sich gleich auch mehreren Ebenen: Eine zuverlässige Kinderbetreuung führe zu einer Entschärfung des Fachkräftemangels. Einmal, weil es Müttern eine stärkere Erwerbstätigkeit ermögliche, zum anderen, weil es zu mehr Geburten führe und damit zu mehr Fachkräften in der Zukunft.

Wer nach Lichtblicken der Demografie sucht, der muss übrigens nicht bis nach Frankreich gucken. Auch in der Region gibt es in der Negativstatistik Ausreißer nach oben. So kamen beispielsweise in Leverkusen im vergangenen Jahr mit geschätzt 1510 Kindern vier Prozent mehr Babys zur Welt als im Jahr zuvor. Auch im Vergleich zu 2014 ist hier noch ein sehr leichtes Plus erkennbar.