Russischer Luftwaffenoffizier desertiertPutins Kriegspilot, der nicht „Komplize eines Verbrechens“ sein wollte

Lesezeit 4 Minuten
Ein Mann steht neben einem russischen Militärhubschrauber, aufgenommen 2015. (Symbolbild)

Ein Mann steht neben einem russischen Militärhubschrauber, aufgenommen 2015. (Symbolbild)

Bevor er ins Kriegsgebiet geschickt werden sollte, entschloss sich der 26-jährige Dimitri Mischow zur Flucht. Jetzt spricht er über die Gründe.

Es war im Januar, da las der 26-jährige Dimitri Mischow in einer Zeitung einen Artikel über einen etwa gleichaltrigen Polzisten aus der Gegend von Pskow, der es zu Fuß bis zur lettischen Grenze geschafft hatte um dort um Asyl zu bitten. Mischow, der junge Luftwaffenoffizier, lag zu diesem Zeitpunkt in einem Militärkrankenhaus seiner Einheit in Pskow. Er hatte, so schilderte er es der britischen BBC, einen Selbstmordversuch unternommen, um nicht an die ukrainische Front geschickt zu werden.

Er entschloss sich, es dem Polizisten gleichzutun, packte ein wenig Gepäck ein und suchte auf einem Telegram-Kanal nach einer Route, die ihn auf EU-Gebiet führen würde. Er sagt, es sei furchterregend gewesen, durch den Wald zu laufen, da er befürchtete, von Grenzschutzbeamten angehalten zu werden. Irgendwo ging eine Signalrakete hoch, er bekam Panik, rannte – erreichte einen Maschendrahtzaun, kletterte darüber und wusste er, dass er es geschafft hatte. „Ich konnte endlich frei atmen.“

Im britischen Fernsehen gewährte der Überläufer jetzt einen Einblick in das Innenleben der russischen Luftwaffe, von der es heißt, sie sei – im Vergleich zu den Landstreitkräften – gut versorgt und zudem motiviert

„Ich bin Militäroffizier, meine Pflicht ist es, mein Land vor Aggressionen zu schützen. Ich muss aber kein Komplize bei einem Verbrechen werden. Niemand hat uns erklärt, warum dieser Krieg begann, warum wir die Ukrainer angreifen und ihre Städte zerstören mussten“, äußert Mischow im Interview.

Desertierter russischer Luftwaffenoffizier Dimitri Mischow gibt Stimmungsbild

Die Stimmung in der Luftwaffe beschreibt er als gemischt. Manche Männer unterstützen den Krieg, sagt er, andere sind entschieden dagegen. Allen gemein ist, dass so gut wie niemand glaubt, dass sie dafür kämpfen, Russland vor einer Bedrohung zu schützen. Russlands offizielle Begründung für den Überfall auf die Ukraine, der am 24. Februar 2022 begann, ist die Verhinderung eines Angriffs auf Russland.

Unzufriedenheit in der Luftwaffe gebe es laut Mischow vor allem aus zwei Gründen: Vor allem die niedrigen Gehälter sorgten für schlechte Stimmung. Erfahrene Luftwaffenoffiziere wie er bekämen immer noch ihr Vorkriegsgehalt in Höhe von 90.000 Rubel monatlich – umgerechnet 1004 Euro. Neu rekrutierte Piloten bekämen dagegen 204.000 Rubel (umgerechnet 2277 Euro).

Wenn wir das mit dem Krieg in Afghanistan in den 1980er-Jahren vergleichen, wissen wir, dass die Sowjetunion dort 333 Hubschrauber verloren hat. Ich glaube, dass wir in einem Jahr die gleichen Verluste erlitten haben.
Dimitri Mischow, Russischer Deserteur

Der zweite Punkt beträfe die enorm hohen Verluste unter Piloten. Hunderte hoch qualifizierte Militärangehörige hätte die Luftwaffen bereits verloren, darunter Piloten und Techniker, deren Ausbildung zeitaufwändig und kostspielig ist. „Sie können zwar die Hubschrauber ersetzen, aber es gibt nicht genug Piloten“, sagt Dmitri. „Wenn wir das mit dem Krieg in Afghanistan in den 1980er-Jahren vergleichen, wissen wir, dass die Sowjetunion dort 333 Hubschrauber verloren hat. Ich glaube, dass wir in einem Jahr die gleichen Verluste erlitten haben.“

Marschbefehl nach Weißrussland

Ausschlaggebend für seine Flucht sei aber der sinnlose Krieg gewesen, sagt er. Er hatte ursprünglich bereits im Januar 2022 die Luftwaffe verlassen wollen, doch seine Papiere seien nicht fertig gewesen. So habe ihn der Überfall auf die Ukraine, offiziell als „militärische Spezialoperation“ bezeichnet, kalt erwischt. Er bekam einen Marschbefehl nach Weißrussland geschickt, wo er Hubschrauber flog, um Militärfracht auszuliefern. In der Ukraine habe er eigenen Angaben zufolge nie gekämpft.

Zurück auf seinem Stützpunkt bei Pskow habe er ab April 2022 mit Nachdruck versucht, seine Entlassung zum Abschluss zu bringen, doch dieser Prozess verzögerte sich weiter, bis Präsident Wladimir Putin im September 2022 die Teilmobilisierung ankündigte. Von da an wurde eine Entlassung aus der Armee untersagt.

Mischow unternahm Slebstmordversuch

Im Januar wurde Mischow mitgeteilt, er werde „auf eine Mission“ geschickt. Er wusste, was das zu bedeuten hatte. Er unternahm einen Selbstmordversuch, ohne ihn näher zu beschreiben. Er hoffte zudem, aus gesundheitlichen Gründen entlassen zu werden, aber dazu kam es nicht.

Wenn ich diesen Hubschrauber bestiegen hätte, hätte ich mindestens mehreren Dutzend Menschen das Leben gekostet. Das wollte ich nicht tun. Die Ukrainer sind nicht unser Feind.
Dmitri Mischow, Russischer Deserteur

Während er sich im Krankenhaus erholte, las er die Fluchtgeschichte des Polizisten aus der Region Pskow, sein Entschluss stand fest. „Wenn ich diesen Hubschrauber bestiegen hätte, hätte ich mindestens mehreren Dutzend Menschen das Leben gekostet. Das wollte ich nicht tun. Die Ukrainer sind nicht unser Feind.“ Kameraden hatten ihm geraten, zu versuchen, sich in Russland zu verstecken. Aber er glaubte, sie hätten ihn gefunden und wegen Fahnenflucht bestraft. „Hätten sie mich verhaftet, hätte ich für lange Zeit ins Gefängnis gehen können“, sagt er der BBC. Er glaubt, dass viele seiner Kameraden seine Motivation verstehen.

Zahl der Deserteure nimmt zu

Die Haltung in der Armee die Ukraine betreffend sei unterschiedlich, sagt er. Aber niemand in der Armee glaube den offiziellen Berichten, darüber herrsche weitgehende Einigkeit: weder was die geringen Verluste betreffe noch die Erfolgsmeldungen von der Front. Mischow: „Beim Militär glaubt niemand den Behörden. Sie können sehen, was wirklich passiert. Sie sind keine Zivilisten vor dem Fernseher. Das Militär glaubt offiziellen Berichten nicht, weil sie einfach nicht wahr sind.“

Die Zahl der russischen Deserteure hat nach Angaben britischer Geheimdienste zuletzt deutlich zugenommen. Zwischen Januar und Mai hätten russische Militärgerichte insgesamt 1.053 Fälle von Fahnenflucht behandelt, teilte das britische Verteidigungsministerium Ende Mai unter Berufung auf Recherchen unabhängiger russischer Journalisten mit. Das sei mehr als im Gesamtjahr 2022.