Das Beste aus 2023Interview: „Wir leben in einer Alkohol-Diktatur mit absurdem Ausmaß“

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Verschiedene alkoholische Getränke

Muss der Alkoholkonsum stärker reguliert werden?

Der Arzt fordert einen verantwortungsvolleren Umgang mit Drogen – und ein Recht auf Rausch. Dazu zählen: viele Pflichten.

Herr Rücker, ein Leben ohne Rausch, geht das überhaupt?

Gernot Rücker: Nein! Dass Menschen sich berauschen, hat es historisch betrachtet schon immer gegeben. Ich finde, jeder hat ein Recht auf Rausch. Und wenn man dieses Recht zubilligt, muss man sehr genau abwägen, welche Substanzen für die Erzeugung geeignet sind, und wie das jeweilige Verhältnis von Nutzen zu Risiko ist.

Gernot Rücker im Porträt

Gernot Rücker forscht an der Uniklinik Rostock zum Thema Drogenkonsum

Warum berauschen sich Menschen auch mit Substanzen, von denen sie wissen, dass sie eigentlich nicht gut für sie sind?

Früher hat die spirituelle Erfahrung eine große Rolle gespielt. Heute leben wir in einer rationalen Gesellschaft, die dafür aber stark reglementiert ist. Wir brauchen diese Regeln natürlich, sonst hätten wir hier Mord und Totschlag. Aber um sie auszuhalten, brauchen wir auch Enthemmung. Wir müssen gelegentlich ausbrechen dürfen. Rausch ist dabei ein sozialer Kit, ein Weg, mit Gleichgesinnten zusammen zu kommen. Das Bier im Stadion, der Wein auf der Party. Und es geht natürlich immer auch um Reproduktion. Der Rausch sorgt dafür, dass wir in Kontakt treten und uns vermehren.

Mit Cannabis können Sie sich immerhin nicht vergiften oder sogar umbringen. Mit Alkohol geht das schon
Gernot Rücker

Können die Menschen das nicht auch nüchtern ganz gut?

Wenn sie zu den Schüchternen gehören, möglicherweise nicht. Ich kenne viele attraktive Frauen, die sagen: Bei mir traut sich immer keiner, mich anzusprechen. Es sei denn, die sind besoffen.

Das klingt furchtbar!

In der Tat, für alle Beteiligten. Da steckt oft ein großer Leidensdruck dahinter.

Der Alkohol-Konsum ist also der akzeptierte Rausch.

Ja, aber diese Akzeptanz ist irrational. Die Qualität eines Alkoholrausches unterscheidet sich zum Beispiel stark vom Cannabis-Rausch. Der Cannabis-Rausch ist eigentlich besser. Obwohl auch der manchmal und besonders bei Erstkonsum unangenehme Folgen haben kann wie Schwindel, Übelkeit oder Panikattacken. Aber Sie können sich mit Cannabis immerhin nicht vergiften oder sogar umbringen. Mit Alkohol geht das schon. Und trotzdem ist Trinken akzeptiert, Kiffen nicht. Wir leben in einer Alkohol-Diktatur, und zwar in einem absurden Ausmaß.

Wie meinen Sie das?

Wenn Sie sich berauschen wollen, können Sie legaler Weise nur auf Alkohol zurückgreifen. Ihnen bleibt gar nichts anderes übrig. Er ist überall und immer verfügbar. Das hat den Nebeneffekt, dass trockene Alkoholiker in jedem Supermarkt, an jeder Tankstelle im Kassenbereich am Schnaps vorbeimüssen. Für alle diese Menschen ist das eine Versuchung ungeahnten Ausmaßes.

Sie argumentieren, dass Alkohol die gefährlichere Droge ist?

Absolut, am Alkoholkonsum sterben jedes Jahr 75.000 Menschen. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs, die Dunkelziffer ist viel höher. Bei einer Todesfeststellung in der Häuslichkeit wird Alkoholmissbrauch nur selten angegeben. Auch, wenn der Alkoholismus die eigentliche Ursache war. Bei Opioiden hingegen sprechen wir von rund 750 Toten. Bei allen anderen Substanzen von etwa 1.000.

Selbstverständlich hat keine Droge etwas in einem kindlichen oder jugendlichen Gehirn bis zum 21. Lebensjahr zu suchen
Gernot Rücker

Nun gibt es auch deutlich mehr Alkohol-Konsumenten.

Das ist immer das Totschlagargument! Aber wenn Sie fünf Millionen Konsumenten haben, und das ist die Zahl, von der wir bei einer illegalen Droge wie Ecstasy derzeit ausgehen, dann müsste es ja auch hier deutlich mehr Todesopfer geben.


Dieser Text gehört zu unseren beliebtesten Inhalten des Jahres 2023 und wurde zuerst am 16. Juli veröffentlicht. Mehr der meistgelesenen Artikel des Jahres finden Sie hier.


Laut BKA hat sich die Zahl der Drogentoten in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt, im Jahr 2022 lag sie bei fast 2000 Menschen. Finden Sie das nicht alarmierend?

Die Verdoppelung bedeutet 1000 auf 2000. Das ist im Vergleich zu der Zahl der Todesfälle wegen Alkohol  ausgesprochen wenig. Und Sie dürfen hier auch die Umstände nicht aus den Augen verlieren. Bei diesen Todesfällen sprechen wir von Usern, die in der Regel hochgradig abhängig sind und Drogen wie Heroin oder Crack im Hochdosisbereich konsumieren.

Die Landesregierung NRW hat sich – im Gegensatz zur Stadt Köln – dagegen ausgesprochen, Cannabis-Modellregion zu werden. Hauptargument ist der Schutz von Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

Selbstverständlich hat keine Droge etwas in einem kindlichen oder jugendlichen Gehirn bis zum 21. Lebensjahr zu suchen. Punkt. Das ist wissenschaftlich völlig klar. Dadurch wird die Entwicklung beeinträchtigt, weil neuronale Vernetzungen und auch die emotionale Entwicklung gestört werden. Das gilt allerdings auch für Alkohol. Und trotzdem gibt es bis heute in vielen Zusammenhängen den Initiationsritus, das Jugendliche sich besaufen.

Auch bei Erwachsenen wird im Zusammenhang mit Cannabis-Konsum die Gefahr von Psychosen diskutiert.

Zum einen wird der Begriff der Psychose verwandt, wenn der Rausch im Sinne eines Horror-Trips aus dem Ruder gelaufen ist. Das kommt vor, ist in der Regel auch unschön, aber mit Medikamenten gut behandelbar. Eine durch Drogen verursachte Halluzination wird ja bisweilen vom Konsumenten gewünscht, ist also ein wesentliches Merkmal des Drogenkonsums. So etwas geht halt nicht immer gut, insbesondere wenn die Umgebungsbedingungen nicht stimmen. Zum anderen gibt es Menschen, die psychische Probleme haben und sich deshalb in einer Art Selbsttherapie mit Drogen betäuben. Das löst das Problem natürlich nicht und schließlich kommen sie irgendwann in medizinische Betreuungsnotwendigkeit. Dann heißt es immer schnell, dass die Droge eine Depression oder Psychose verursacht hat. Aber das ist fast immer eine Verkehrung von Ursache und Wirkung. Das psychische Problem war schon vorher da und hat dann erst zum problematischen Drogenkonsum geführt.

Lehrerinnen und Lehrer müssen an Schulen vernünftig über die Zusammensetzungen, die Wirkung und die Risiken aller Drogen informieren
Gernot Rücker

Sollte der Schutz der zweiten, der verletzlichen Gruppe nicht dennoch Priorität haben?

Ja, aber diesen Schutz erreichen sie nicht durch ein generelles Drogen-Verbot. Sondern dadurch, dass wir bei bestimmten Themen endlich hinschauen: Die meisten Borderline-Patienten und vor allem -Patientinnen, die ich im Notarztdienst sehe, haben Erfahrungen mit Gewalt, auch Sexualgewalt, meistens in der Familie, gemacht. Auch hier spielt Alkohol oft eine Rolle, da er eine Aggressionsdroge ist. Wir sprechen hier also über Menschen, die dringend eine Therapie brauchen, aber keinen Platz bekommen. Und häufig entdecken sie dann eine Droge, die ihren Schmerz lindert, werden abhängig und landen schließlich schlimmstenfalls in der Prostitution, weil sie ihre Sucht nicht anders finanzieren können. Und dann kommen sie für die daraus folgende Kriminalisierung womöglich auch noch ins Gefängnis. Das ist doch eine gesellschaftliche Bankrotterklärung. Deswegen sage ich auch: Jeder hat das Recht auf Rausch. Aber auch jeder hat das Recht auf eine Therapie.

Das Mädchen, das an der Ecstasy-Pille „Blue-Punisher“ gestorben ist, war gerade mal 13 Jahre alt.

Das stimmt, aber auch dieser Tod hätte durch einen mündigen Umgang mit Drogen verhindert werden können. Eltern, Lehrer, die meisten Erwachsenen wissen doch gar nicht, womit sie es zu tun haben. Wenn sie ein Problem mit einem  Ausbreitungsfaktor von mehreren hundert Millionen Pillen trotz drastischster Strafen haben, dann müssen sie sich diesem Problem stellen! Das heißt zum Beispiel, dass wir das Thema Drogen akademisieren müssen. Und Lehrerinnen und Lehrer an Schulen vernünftig über die Zusammensetzungen, die Wirkung und die Risiken aller Drogen informieren müssen. Ich bin überzeugt, dass es hochdosierte Pillen wie die Blue-Punisher gar nicht gegeben hätte, wenn Ecstasy legal wäre.

Würde von solchen Legalisierungsforderungen am Ende nicht vor allem die Drogenmafia profitieren?

Im Gegenteil! Wenn Sie solche Drogen zum Beispiel in der Apotheke verkaufen, haben sie eine vollständige Qualitätskontrolle mit Preisen, die das Produkt auf dem Schwarzmarkt unrentabel machen. Die Herstellungskosten sind nämlich in der Regel gering. Das Risiko, beim Verkauf aufzufliegen, treibt den Preis erst hoch. Und damit wird der illegale Verkauf unattraktiv.

Zur Person

Gernot Rücker ist Anästhesist und Notfallmediziner. An der Universitäsklinik Rostock forscht er zum Drogenkonsum und seinen Folgen. Auf Musikfestivals klärt er zudem seit vielen Jahren über Drogen und ihre Zusammensetzung auf. Sein Buch "Rausch" ist gerade im Mosaik Verlag erschienen.