„Nur Tunnelblick“Schlebuscher hilft als Genesungsbegleiter Menschen mit Depressionen

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Genesungsbegleiter Horst Gottschalk

Leverkusen – „Manchmal reicht es, den richtigen Menschen zum richtigen Zeitpunkt zu treffen“, steht in weißer Schrift auf der roten Visitenkarte von Horst Gottschalk. Das sei das schönste Kompliment eines Klienten an ihn gewesen, sagt der Leverkusener. „Hätte ich Sie früher getroffen, hätte ich mir mehrere Klinikaufenthalte sparen können“, habe der zu ihm gesagt. Horst Gottschalk wohnt in Schlebusch und arbeitet als Genesungsbegleiter. Sein großer Vorteil im Vergleich zu manchem Therapeuten: Er ist selbst Betroffener und weiß durch seine eigene persönliche Erfahrung, wovon er spricht.

Über 14 Jahre litt der 55-Jährige an Depressionen, ohne, dass ihm geholfen werden konnte. 2003 war er das erste Mal für zehn Wochen in der psychiatrischen Klinik im Evangelischen Krankenhaus Bergisch Gladbach. Dort sei er jedoch nur bevormundet worden, empfindet er. „Mir wurden verschiedene Therapieangebote vorgelegt. Die Ärzte und Therapeuten haben jedoch nicht individuell darauf geachtet, was für ihre Patienten persönlich wichtig ist“, erklärt Gottschalk.

Heute ist er der Meinung, dass jeder, der möchte, eine Verbesserung in seinem Leben erreichen kann. „Man muss erkennen, was der Knackpunkt ist und Bereitschaft zeigen, etwas verändern zu wollen.“ Nach dem Klinikaufenthalt 2003 habe Gottschalk 14 Jahre lang versucht, sein Leben durch einen Arbeitswechsel zu verbessern. „Dabei bin ich jedoch in meiner Berufssparte als Bauleiter geblieben, habe mich von Firma zu Firma durchgeschlagen und auch sieben Jahre selbstständig gearbeitet. Ich habe alles Mögliche mit dem Abschluss, den ich bereits hatte, versucht.“ Nach einer gefühlt halben Ewigkeit – mit der Depression als täglicher Lebensbegleiter an seiner Seite – sei Horst Gottschalk in eine psychosomatische Klinik bei Bad Arolsen gegangen. „Ich habe den Schritt damals aus eigener Initiative ergriffen. Ich wollte einen wirklichen ,Reset' erreichen, weshalb ich so weit von zu Hause, in ein komplett neues Umfeld gegangen bin. Ich habe sogar meiner Frau gesagt, dass sie mich nicht besuchen bräuchte“, erzählt Gottschalk.

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Der Tapetenwechsel habe dem damals 50-jährigen gutgetan. Zwei Wochen sei sein Tagesablauf voll von verschiedensten Therapien gewesen. Von Atemübungen über Bewegungseinheiten bis hin zu Tischtennisspielen in der Klinik. „Wie viele Jahre habe ich kein Tischtennis mehr gespielt, habe ich damals gedacht. Durch meinen Job hatte ich nur noch diesen Tunnelblick. Der Stress, die 50 bis 60 Stundenwochen haben mich komplett vereinnahmt“, so der Vater zweier Kinder. Oft zögen verschiedene Seile an einem. Durch den Stress seines damaligen Jobs sei er manchmal Montagmorgen klatschnass aufgewacht und hätte eigentlich erneut ein Wochenende gebraucht. „Lange war mir nicht bewusst, dass die Depression meine eigene Wahrnehmung bestimmt hat“, sagt der 55-jährige. „Ich dachte, dass jeder einfach anders mit Stress umgeht und ich jetzt damit klarkommen muss. Dass ich an Depressionen leide und mir geholfen werden kann, habe ich lange nicht verstanden.“

In der Klinik habe er 2017 gelernt, wieder auf seinen eigenen Körper, seine Gefühle und Bedürfnisse zu hören. „Vom ,Tun-was-andere-von-mir-erwarten' bin ich endlich zum Leben gekommen“, sagt der Hundebesitzer heute voller Stolz mit einem Lächeln auf den Lippen. Damals habe es in der Klinik tatsächlich ein Schlüsselerlebnis seiner Genesung gegeben. „Als wir an einem Tag spazieren waren, ist plötzlich ein Bauwagen an uns vorbeigefahren. Mein Körper ist allmählich zusammengezuckt, hat sich verkrampft, gezittert und ich habe gedacht, dass ich bloß nicht auf die Arbeit zurück möchte. Als ich das meiner Therapeutin erzählt habe, hat sie sofort verstanden, dass ich diesen Job nie wieder ausführen sollte“, sagt der heutige Genesungsbegleiter. „Dann hat es bei mir klick gemacht.“

Erfahrungsbasierte Unterstützung als Genesungsbegleiter

Bei der neuen Berufsfindung 2017 sei für ihn klar gewesen, dass er den Austausch mit Menschen bräuchte. Heute ist der Schlebuscher als Genesungsbegleiter im Sozialpsychiatrischen Zentrum Alpha in Wermelskirchen tätig, nachdem er eine einjährige Ausbildung zum „Experienced Involvement Genesungsbegleiter“ beim Verein „LebensART“ absolviert hat. Der Abschluss gilt als Fortbildung, aber nicht als eigenständiger Berufsabschluss. „Ich übernehme und begleite Betroffene, die aus der Klinik kommen. Mein Schicksal ist keine einmalige Geschichte. Es gibt so viele Menschen, die mehrere Klinikaufenthalte hinter sich haben und nicht weiterkommen.“ „Meine Klienten fühlen sich verstanden, da sie wissen, dass ich verstehe, wie es ihnen geht“, fügt der 55-Jährige hinzu.

Er möchte sein Erfahrungswissen und die Erkenntnisse mit anderen teilen und weitergeben. Aber: „Meine Tätigkeit als Genesungsbegleiter ersetzt weder Psychotherapie noch die Tätigkeit eines Psychiaters. Sie ergänzt das psychiatrische Gesundheitssystem, in dem ich dem Betroffenen auf Augenhöhe und aus eigener Genesungserfahrung heraus eine praktische Unterstützung zur Krankheitsbewältigung bieten kann“, erklärt Horst Gottschalk. Er vergleicht seinen Beruf metaphorisch mit den Tragflächen eines Flugzeugs. „Startet ein Flugzeug irgendwann allein von einem Flugzeugträger und fliegt allein über den großen Ozean, muss es sich auf seine Tragflächen verlassen können, dass sie ihn auch auf dem weiteren Weg unterstützen und halten.“ Der Flugzeugträger sei im echten Leben die Klinik, das Flugzeug der Patient und er als Genesungsbegleiter eben die Tragfläche.

Der gesellschaftliche Bedarf für psychologische Unterstützung sei riesig, findet Gottschalk, und so unterstützt er auch das Projekt „Verrückt? Na und!“. Mit einem Sozialarbeiter und einer weiteren betroffenen Person gehe er an Schulen und gestalte einen kompletten Tag zum Thema Aufklärung über psychische Erkrankungen und wie man sich Hilfe holt.

Keine Tabuisierung um psychische Erkrankungen

Es sei wichtig und vor allem nötig, dass das Thema um psychische Erkrankungen mehr an die Öffentlichkeit gerate, sagt der Schlebuscher, denn die Tabuisierung psychischer Krankheiten und die fehlende Bereitschaft sich Hilfe zu suchen, sei in unserer Gesellschaft immer noch riesig. Gerade zur heutigen Zeit, in der der Krieg herrsche, Corona uns das Leben erschwere oder der Klimawandel voranschreite, seien Ängste und Zweifel kein Nebenprodukt, sondern etwas, dass alle Menschen beschäftige.

In seinem Haus in der Waldsiedlung richtet sich Horst Gottschalk gerade sein eigenes Büro ein. Im Keller steht auch sein Schlagzeug. „Ich habe vor Kurzem angefangen, Unterricht zu nehmen. Einfach mal alles rauslassen. Das kann sehr befreiend sein. Viele Erwachsene denken sie sind zu alt, um noch ein neues Instrument zu lernen. Aber warum? Wir müssen von diesem Denken wegkommen.“