Verbrecherjagd in LeverkusenSie nannten ihn „Leichen-Erwin“

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Leichen-Erwin Leverkusen

Erwin Prahl, geboren 1927, stand 30 Jahre im Dienst der Leverkusener Polizei. Sein Spitzname: „Leichen-Erwin“.

Leverkusen – „Es war eine arbeitsintensive, eine schöne, aber eben auch eine andere Zeit.“ Erwin Prahl schreibt diese Worte im Herbst 2003. 76 Jahre alt ist er da bereits, befindet sich im Ruhestand und erinnert sich auf knapp 120 Buchseiten an sein Arbeitsleben, das ein ganz besonderes war. 30 Jahre war Erwin Prahl im Dienst der Leverkusener Kriminalpolizei und ermittelte in dieser Zeit in unzähligen Mord- und Todesfällen. Die örtliche Presse, so erzählt es Prahl selbst in seinem vor 18 Jahren erschienen Buch „Dem Täter auf der Spur“, gab ihm bald einen Namen, der mehr nach Täter als nach Ermittler klingt: Aus Erwin Prahl wurde „Leichen-Erwin“.

Leverkusen war kein beschauliches Örtchen

Klar, die Hochburg des Verbrechens, der Milieugrößen, der Halbwelt und der Ganoven, das war in den 1960er und 1970er Jahren der große Nachbar Köln. Doch „Leichen-Erwin“ hatte mehr als genug in Leverkusen zu ermitteln, ein beschauliches Örtchen war die industriegigantische Großstadt auch damals nicht.

Leichen-Erwin Leverkusen

Erwin Prahl, geboren 1927, stand 30 Jahre im Dienst der Leverkusener Polizei. Sein Spitzname: „Leichen-Erwin“.

Angefangen aber hatte der einstige Lübecker Prahl in Leverkusen als Verkehrspolizist am Bayer-Löwen. 1958 ging es dann nach bestandener Prüfung zur Kriminalpolizei – mit einem Gehalt von 360 Mark monatlich. „Wir hatten zu dieser Zeit weder DNA-Analysen noch Mikrospuren“, schreibt „Leichen-Erwin“ über seine Ermittlungen.

Polizisten hatten ein höheres Ansehen

Das Ansehen eines Polizisten in der Bevölkerung habe gleichwohl mehr Wert gehabt als zu späteren Zeiten. „Dem Kriminalbeamten wurde von allen Seiten der Bevölkerung Achtung und Respekt entgegengebracht“, schreibt Prahl: „Für richtige Ganoven war es Ehrensache, sich nie an einem Kriminalbeamten zu vergreifen.“

Wir beleuchten in einer neuen Serie Verbrechen, in denen Ermittler „Leichen-Erwin“ Prahl, der fast genau vor fünf Jahren im Alter von 89 Jahren in Leverkusen starb, ermittelt hat – und öffnen dabei auch die Archive des „Leverkusener Anzeiger“.

Der erste Fall: Mord mit dem Auto

„Mord mit dem Auto – 19-Jähriger zu Tode geschleift“, titelte diese Zeitung am 29. Juni 1970 zum ersten Fall der Serie.

Erwin Prahl schreibt darüber: „Es war das letzte Wochenende im Juni des Jahres 1970. Das Wetter war geeignet, es mit der Familie zu verbringen. In den Nachmittagsstunden wurde dieser Wunschtraum zunichte gemacht.“ Roland F. war der 19-Jährige, der bei dem Disput zwischen jungen Männern im Sommer vor 51 Jahren ums Leben kam. Eine Gruppe junger Italiener war mit gleichaltrigen Deutschen wenige Tage vor der Tat wegen eines Fußballspiels – dem als Jahrhundertspiel titulierten 4:3-Sieg der Italiener gegen Deutschland bei der Weltmeisterschaft in Mexiko – aneinandergeraten.

Leichen-Erwin Mord mit dem Auto

Artikel des „Leverkusener Anzeiger“ über ein brutales Verbrechen im Juni 1970. „Leichen-Erwin“ ermittelte auch in diesem Fall.

In der Wiesdorfer Straße „In den Kämpen“ – die später im Rahmen der Sanierung der Altlast Dhünnaue verschwand – entspann sich am 26. Juni 1970 vor dem Jugendheim der Arbeiterwohlfahrt die folgenschwere Auseinandersetzung. Eggert Jessien, Redakteur des „Leverkusener Anzeiger“ schrieb am Montag darauf: „Zwei etwa gleich starke Gruppen standen sich gegenüber. Ein Wort gab das andere. Dem Wortwechsel folgten Rempeleien, diesen wiederum Tätlichkeiten.“

Sie rasten mit einem Fiat auf die gegnerische Gruppe zu

Die italienischen Jugendlichen schienen sich zurückzuziehen, dann aber machten ein paar von ihnen kehrt, sprangen in einen Fiat – der 21 Jahre alte Luciano V. saß am Steuer – und rasten auf die gegnerische Gruppe zu. Dann traf es einen, der gar nicht aktiv beteiligt gewesen war und dem Fahrzeug den Rücken zugekehrt hatte: „Roland F. wurde von dem Pkw erfasst und auf die Haube geschleudert. Der Wagen raste 95 Meter weiter und stoppte plötzlich, F. wurde auf die Straße geschleudert und kam mit den Beinen unter das Fahrzeug.“ Luciano V. gab wieder Gas „und schleifte sein Opfer genau 101 Meter weit mit“.

„Als ich mich auf den Weg zum Tatort nach Wiesdorf begab, konnte ich nicht wissen, dass es die längste Fahndung nach einem bekannten Täter in meiner Dienstzeit werden würde und ich lange Dienstreisen auf mich nehmen müsste“, schreibt Prahl über die Folgen der Tat.

Luciano V. flüchtete nach Italien

Denn Luciano V. flüchtete mit seinem Fiat 850 nach Italien. Prahl gab sich damit nicht ab: „Ich wollte das brutale und menschenverachtende Verbrechen, das einen völlig unbeteiligten 19-Jährigen das Leben gekostet hatte, nicht ungesühnt sehen.“

Sogar im Fernsehen, bei „Aktenzeichen XY“, wurde nach dem Fahrzeug und seinem Fahrer V. gesucht, und Prahl nahm während der Sendung 110 Hinweise aus der Bevölkerung auf. „Der Gesuchte aber blieb verschwunden“, schreibt der ehemalige Polizist. „In den nächsten Jahren hörte ich immer wieder von sizilianischen Gastarbeitern, dass er sich in Catania auf Sizilien aufhalte und stets in den Bergen verschwand, wenn die Polizei des Festlands zu seiner Festnahme erschien.“

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Erst 1976 kam es dank Erwin Prahl zum Prozess. Als er erfuhr, dass Luciano V. unbehelligt von der örtlichen Polizei in Catania spazieren gehen konnte, legte er einen entsprechenden Bericht der Staatsanwaltschaft vor. Mit Erfolg, berichtet „Leichen-Erwin“: „Sie erhöhte über Interpol den Fahndungsdruck auf die italienischen Behörden“ – und V. wurde 1974 festgenommen.

Erwin Prahl sagte in Rom aus

Zwei Jahre später, beim Prozess in Rom, berief sich Luciano V. auf Notwehr, berichtete der „Leverkusener Anzeiger“. Er habe Angst vor der gegnerischen Gruppe gehabt, habe mit dem Auto flüchten wollen und dabei Roland F. erwischt. Dass er diesen nach dem Fall von der Motorhaube zu Tode schleifte, habe er gar nicht gemerkt. Auch Erwin Prahl sagte in Italien als Zeuge aus und beschrieb, wie dem Opfer „das rechte Bein bis auf einige Fetzen Haut vom Körper gerissen worden war“.

Die Anklage des Staatsanwalts, so stand es in der Zeitung, lautete „auf Blutbad und Rauferei“. Der Verteidiger hingegen plädierte auf Totschlag, und das Gericht folgte ihm: Vier Jahre Freiheitsstrafe, lautete das Urteil. V. kam auf Bewährung frei, schließlich hatte er bereits zwei Jahre hinter Gittern verbracht. Der „Leverkusener Anzeiger“ schrieb schließlich: „Als V. das Urteil hörte, fiel er seinen Eltern um den Hals und brach vor Freude in Tränen aus.“