Immer wieder abgelehntJessica Köllner wartete drei Jahre auf ihren Rollstuhl

Lesezeit 5 Minuten
20200122-Jessica-Koellner-007

Jessica Köllner.

  • Drei Jahre lang musste Jessica Köllner warten. Jetzt wurde der neue Rollstuhl endlich bewilligt.
  • Um so weit zu kommen, musste Köllner vor Gericht ziehen, denn sowohl ihre Krankenkasse als auch der Oberbergische Kreis weigerten sich, dass 30.000 bis 35.000 Euro teure Gerät zu bezahlen.
  • Nun musste der Kreis zahlen - und will sich das Geld wiederholen...

Reichshof-Heidberg – Am 17. März 2012, an ihrem 35. Geburtstag, erfuhr Jessica Köllner, dass sie an Multipler Sklerose leidet, einer bis heute unheilbaren Erkrankung des zentralen Nervensystems, die sowohl das Gehirn als auch das Rückenmark betrifft. Wenige Wochen später bereits saß sie nach zwei heftigen Krankheitsschüben im Rollstuhl. Ihr Mann gab seinen Beruf auf, pflegt und versorgt sie und die sechs Kinder seitdem.

2017 wurde Jessica Köllner ein neuer elektrischer Rollstuhl verordnet. Einer mit Stehfunktion, der es ihr ermöglicht, selbstständig aus sitzender Position in eine aufrechte Stehhaltung zu kommen. Derzeit muss ihr immer jemand aus dem elektrischen Rollstuhl und in eine klobige Stehapparatur helfen. Darin kann sie zwar stehen, sich aber nicht vom Fleck rühren. Das Ding, sagt die 42-Jährige, sei groß wie ein Schreibtisch und passe nicht ins Auto. Auch weil der Rollstuhl seit drei Jahren kaputt ist, verschrieb Köllners Neurologe ihr Anfang 2017 einen, der die Funktion beider Geräte beinhaltet.

Endlich bewilligt

Drei Jahre ist die Verordnung alt, den neuen Rollstuhl hat Köllner immer noch nicht. Immerhin wurde er vor wenigen Tagen endlich bewilligt. Um so weit zu kommen, musste Köllner vor Gericht ziehen, denn sowohl ihre Krankenkasse als auch der Oberbergische Kreis weigerten sich, dass 30.000 bis 35.000 Euro teure Gerät zu bezahlen. Mit ihrem bisherigen Rollstuhl und der Stehhilfe sei sie ausreichend und zweckmäßig versorgt. Beide Geräte zusammen kosteten damals 24.000 Euro.

Mehr sei nicht notwendig, lautete die Begründung. Doch, sagt Jessica Köllner, der neue Rollstuhl werde ihr enorm helfen, am täglichen Leben teilzunehmen. Zum Beispiel zusammen mit Mann und Kindern zu kochen oder sich selbst eine Kaffeetasse aus dem Schrank zu holen, ohne jemanden um Hilfe zu bitten. Sie ärgert sich, dass Krankenkasse und Kreis nur auf die Kosten des Rollstuhls schauten: „Dabei gehört er mir ja gar nicht. Wenn ich morgen sterbe, holen sie ihn übermorgen ab und geben ihn dem nächsten.“

20200122-Jessica-Koellner-009

Jessica Köllner in der Küche ihres Wohnhauses: Der jetzt endlich bewilligte neue Rollstuhl wird ihr ohne fremde Unterstützung in den Stand verhelfen. Das werde ihren Alltag spürbar erleichtern, sagt die 42-jährige sechsfache Mutter, die von ihrem Mann gepflegt wird.

Köllners Krankenkasse brauchte nur einen Tag, um die Verordnung abzulehnen und sie an den Oberbergischen Kreis weiterzureichen, berichtet Sozialamtsleiter Dietmar Kascha. Die Möglichkeit, einen zweiten Hilfeträger damit zu befassen, sieht das Gesetz ausdrücklich vor. Der Kreis hatte Köllners Verordnung nun auf dem Tisch, „obwohl die Anschaffung eines solchen Spezialrollstuhls natürlich Sache der Krankenkasse und nicht unser Kerngeschäft ist“, unterstreicht Sozialdezernent Ralf Schmallenbach.

Weder die Krankenkasse noch der Kreis erkundigten sich bei Jessica Köllner nach ihrem aktuellen Gesundheitszustand und ob sich dieser seit der Auslieferung ihres aktuellen Rollstuhls 2013 verschlechtert habe – was die Frage der „ausreichenden Versorgung“ möglicherweise in ein anderes Licht gerückt hätte.

Keine Angelegenheit des Sozialgesetzbuchs?

Stattdessen übernahm der Kreis inhaltlich die Argumentation der Krankenkasse und erklärte sich zudem für unzuständig: Der Rollstuhl sei keine Angelegenheit des Sozialgesetzbuchs 12 (Sozialhilfe), sondern des Sozialgesetzbuchs 5, also Sache der Krankenkasse. Köllner sei ausreichend versorgt, um am sozialen Leben teilzunehmen.

War die Verordnung durch Köllners Arzt also unangemessen, unnötig oder gar „Luxus“? Dazu enthält sich der Kreis jeglicher Äußerung. Darauf hin legte Jessica Köllner über ihren Anwalt Jörg Hackstein umgehend Widerspruch ein – den der Oberbergische Kreis ebenso umgehend ablehnte.

„Trotzdem sind wir jetzt der Buhmann.“

Im Januar 2019 entschied das Kölner Sozialgericht zugunsten der Reichshoferin. Die Richter stellten fest, dass sie Anspruch darauf habe, sich ohne fremde Hilfe hinstellen zu können – also Anspruch auf den speziellen Rollstuhl. Dessen Anschaffung solle der Kreis als Beklagter übernehmen – aber nach den Vorgaben des SGB 5, also nach Krankenkassenregeln. „Damit wurde unsere Rechtsauffassung bestätigt, dass wir gar nicht zuständig waren“, erklärt Dezernent Schmallenbach. „Trotzdem sind wir jetzt der Buhmann.“ Zugunsten der Patientin habe man auf eine Berufung gegen das Urteil verzichtet, so Schmallenbach. Im Sommer 2019 wurde das Urteil rechtskräftig.

Was danach geschah, beschreibt Schmallenbach als „ein paar Schleifen, die man sich hätte sparen können. Das hätte sicher ein paar Wochen schneller gehen können.“ Dem Gebot des wirtschaftlichen Umgangs mit Steuergeldern gehorchend, wollte der Kreis mehrere Vergleichsangebote haben und fragte ausgerechnet Köllners Krankenkasse, was das geeignetes Hilfsmittel wäre. Die Kasse habe zunächst gar nicht reagiert und am Ende nur Angaben samt geringfügiger Abstriche zu dem einen Stuhl geschickt, den Köllner von Anfang an hatte haben wollen. Und auch andere Anbieter hätten auf die Anfragen des Kreises nicht reagiert.

Androhung der Zwangsvollstreckung hat nicht gefruchtet

Das Hin und Her nach der Rechtskraft des Kölner Urteils brachte Köllners Anwalt Jörg Hackstein endgültig auf die Palme. Dass die Behörde nicht nur Monate nach der Rechtskraft des Urteils seine Mandantin noch nicht mit dem Rollstuhl versorgt, sondern von ihr gefordert habe, selbst drei Kostenvoranschläge beizubringen, sei ihm in seiner fast 30-jährigen bundesweiten Tätigkeit insbesondere im Sozialrecht noch nicht untergekommen, schrieb Hackstein Anfang Dezember an Landrat Jochen Hagt. Selbst die mehrfache Androhung der Zwangsvollstreckung habe nicht gefruchtet, weshalb der Anwalt gleich auch Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die maßgeblichen Mitarbeiter der Kreisverwaltung erhob und die Landesbehinderten- und Pflegebeauftragte über den Fall Köllner informierte.

Kreissozialdezernent Ralf Schmallenbach (links): "Wir waren nicht zuständig, sind aber trotzdem jetzt der Buhmann."

Kreissozialdezernent Ralf Schmallenbach (links): "Wir waren nicht zuständig, sind aber trotzdem jetzt der Buhmann."

Es sei immer bedauerlich, wenn es zu lange dauere, bis die Menschen das für ihre Krankheit richtige Hilfsmittel bekommen, sagt Schmallenbach, der bis 2016 selbst Regionaldirektor einer Krankenkasse war. Anfang Januar hat der Kreis den Rollstuhl für Jessica Köllner bewilligt, und gestern bekam das Sanitätshaus danach auch zunächst telefonisch die Erlaubnis vom Kreis, ihn zu bestellen.

Das könnte Sie auch interessieren:

Das Geld dafür will sich der Kreis bei Köllners Krankenkasse wiederholen. Das wird, da sind Rechtsanwalt Hackstein und Dezernent Schmallenbach einer Meinung, vermutlich auch nicht ohne Gerichtsprozess abgehen.