„Meine besondere Begegnung“Russischer Soldat half Dorothea Wigger bei der Flucht

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Dorothea Wigger ist im Krieg aufgewachsen.

Dorothea Wigger ist im Krieg aufgewachsen.

Bergneustadt – Wenn Dorothea Wigger über ihre besondere Begegnung spricht, muss die heute 81-jährige Bergneustädterin 75 Jahre in ihrem Leben zurückgehen. Obwohl das schon so lange her ist, hat sich diese eine Begegnung bis heute fest in den Erinnerungen der Seniorin verankert. „Sie war richtungsweisend für mein ganzes Leben“, berichtet Wigger und erinnert sich an eine Zeit, in der Krieg den Alltag überschattete.

Angst bestimmte ihre Kindheitstage

Im Februar 1941 wurde Dorothea Wigger im ostpreußischen Königsberg und mitten in der Kriegszeit geboren. Bereits ihre frühe Kindheit sei von Angst überschattet worden, schildert die Seniorin. Insbesondere die Angst um ihren Vater, der an der Front kämpfte, habe den Alltag der Familie bestimmt. „So entschloss sich meine Mutter Ende Januar 1945 mit mir in den Westen zu flüchten“, berichtet Wigger.

Nach Aufenthalten in Berlin und Sachsen landete die damals knapp Vierjährige mit ihrer Mutter in einem kleinen Ort in Thüringen. Mit der Hilfe des Roten Kreuzes fanden sie heraus, dass die Großmutter und die Tante im Oberbergischen gestrandet waren. „Das hieß, unsere Verwandten waren in der britischen Zone und wir in der russischen Zone“, erklärt Dorothea Wigger und berichtet weiter: „Meine Mutter erfuhr, dass es aus der russischen Zone einen möglichen Fluchtweg über Sonneberg in die amerikanische Zone nach Neustadt bei Coburg gab. Die Entfernung betrug zirka fünf bis sechs Kilometer. Dazu erfuhr sie von einem Fluchthelfer, der für Geld oder Schmuck beim illegalen Grenzverkehr half.“

Ein russischer Soldat half Dorothea Wigger und ihrer Mutter bei der Flucht.

Ein russischer Soldat half Dorothea Wigger und ihrer Mutter bei der Flucht.

In Sonneberg habe ihre Mutter an der Tür des Fluchthelfers geklingelt. Von einer Nachbarin erfuhren sie jedoch, dass dieser längst „abgeholt“ worden sei. „Nach einigem Hin und Her entschieden die Erwachsenen dann, dass meine Mutter und der Mann der Nachbarin bei einbrechender Dunkelheit zur Grenze gehen und der Mann ihr den Grenzverlauf zeigen sollte“, sagt Dorothea Wigger, die währenddessen auf dem Sofa schlief, um sich für die geplante Flucht in der Nacht auszuruhen. Die Besitzerin des Hauses schenkte dem Mädchen eine kleine Puppe, die sie eigentlich für die Sonneberger Spielzeugindustrie hergestellt hatte. Das Püppchen war fortan Dorothea Wiggers treuer Begleiter.

Russische Soldaten kamen mit dem Gewehr im Anschlag

Nur mit zwei Rucksäcken ausgestattet, machte sie sich mit ihrer Mutter in der Nacht auf den Weg zur Grenze. „Wir hörten die Wachhunde bellen und Scheinwerfer erhellten den Himmel“, erinnert sich die Seniorin genau. Vom Wald aus ging es auf der Straße weiter. „Plötzlich hörten wir ein Auto, meine Mutter zog mich in den Graben und sagte dann freudig: ,Das waren die Amis, wir haben es geschafft!’“. Am Bahnhof trafen sie auf weitere erschöpfte Flüchtlinge. „Die Freude dauerte allerdings nicht lange. Als der Zug nach zwei Stationen hielt, kamen russische Soldaten mit dem Gewehr im Anschlag und riefen: ,Dawei, dawei!’“, erzählt Wigger weiter. Panisch hätten die Menschen den Zug verlassen.

Die Begegnung hat sie nie losgelassen

Die amerikanisch und russisch uniformierten Soldaten hätten nacheinander die Pässe kontrolliert. „Viele wurden mit dem Gewehr im Rücken abgeführt“, erinnert sich die 81-Jährige. Und plötzlich sei ein Russe mit einem jungen Mann zu ihnen gekommen und habe mit dem Finger auf sie und ihre Mutter gezeigt. Der Russe habe sich vor sie gestellt, mit der Hand über ihren Kopf gestrichen und ihr das Püppchen wiedergegeben, das sie vor Schreck habe fallen lassen.

„Der russische Offizier packte meine Mutter am Arm und bedeutete ihr, ohne nach einem Visum zu fragen, in den Zug zu steigen. Was diesen Mann dazu bewogen hatte, weiß ich nicht“, erzählt Dorothea Wigger. Bis heute hat sie diese Begegnung nicht losgelassen. „Wenn er nicht gewesen wäre, hätte ich meine Kindheit sicher in einem Kinderheim der DDR verbracht und meine Mutter wäre im Gefängnis gelandet.“

In Oberberg setzten sich die positiven Begegnungen fort. Zunächst kam die wiedervereinte Familie in Nümbrecht-Bierenbachtal unter und danach in Rommelsdorf bei einer netten Familie, die alles mit ihnen teilte. Dorothea Wigger heiratete und zog nach Bergneustadt, dort arbeitete als Religionslehrerin am Gymnasium. Das Stoffpüppchen, bedauert sie, sei bei den Umzügen abhanden gekommen.

Die Begegnung mit dem russischen Soldaten hat sie nie vergessen: „Mir hat die Erinnerung an diese Begegnung geholfen, jedem Menschen vorurteilsfrei gegenüberzutreten“, betont die Seniorin, die sich in der Flüchtlingsarbeit einbrachte, um anderen Menschen das zu geben, was sie einst selbst erlebte.