Arbeitszeiterfassung wird Pflicht„Kein Allheilmittel gegen Ausbeutung“

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Ein Mitarbeiter erfasst seine Arbeitszeit digital an einem Terminal. 

Berlin – Beschäftigte in Deutschland sammeln jährlich Milliarden Überstunden, viele davon unbezahlt. Könnte die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts, wonach die Arbeitszeiterfassung in Deutschland Pflicht ist, die Arbeitskultur verbessern – und unsere Gesundheit schützen? Experten und Expertinnen erklären, was dafür und dagegen spricht.

Vertrauensarbeitszeit, mobiles Arbeiten, Homeoffice – und möglichst wenig Kontrolle, Überwachung und Dokumentierung: Unser Berufsleben ist hierzulande von Flexibilisierung und Digitalisierung geprägt. Eigentlich könnte man meinen, dass solche strengen Systeme wie Stempelkarten oder eine digitale Zeiterfassung zu dieser modernen Arbeitswelt gar nicht passen. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber werden in Deutschland jedoch künftig keine andere Wahl haben, als die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten systematisch und penibel zu erfassen: Das Bundesarbeitsgericht hat das in einem Grundsatzurteil entschieden.

Das Urteil hat ein Getöse an teils erfreuten und teils verärgerten Reaktionen ausgelöst: Von Arbeitgebern, die einen unangemessenen bürokratischen Aufwand befürchten, bis hin zu Beschäftigten, die darin endlich einen Ausweg aus unbezahlten Überstunden sehen. Die Soziologin Anita Tisch, Leiterin der Forschungsgruppe „Arbeitszeit und Organisation“ im Fachbereich „Arbeitswelt im Wandel“ der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Baua), kann verstehen, dass das Urteil viel Aufmerksamkeit erlangt. „Arbeitszeit ist auch Lebenszeit. Deswegen ist dieses Thema auch mit vielen Emotionen verbunden. Der aktuelle Aufschrei richtet sich dabei nicht unbedingt konkret gegen die Arbeitszeiterfassung, sondern möglicherweise gegen die Ängste vor Überwachung“, sagt sie.

Expertin: Arbeitszeiterfassung ermöglicht mehr Flexibilität – und schützt vor Selbstausbeutung

Dabei sei das Urteil keinesfalls eine große Kehrtwende in der Arbeitswelt. In einer Befragung der Baua im Jahr 2021 gaben laut Tisch 80 Prozent von 20.000 Beschäftigten an, dass ihre Arbeitszeiten erfasst werden. In größeren Unternehmen war der Anteil dabei höher als bei kleineren. Die Forschung der Baua zeige zudem, dass die Ängste vor Überwachung unbegründet sind: Durch eine Arbeitszeiterfassung könne auch die Flexibilität zunehmen, da es besser möglich sei, Überstunden zu dokumentieren und zu einem anderen Zeitpunkt wieder auszugleichen, sagt Tisch. „Unsere Studien zeigen auch: Dort, wo Arbeitszeiten erfasst werden, kommt es weniger zu ständiger Erreichbarkeit. Wenn die Arbeitszeit dagegen nicht erfasst wird, haben die Beschäftigten ein höheres Risiko, entgrenzt zu arbeiten“, so die Expertin.

Entgrenzung – worunter die Auflösung von Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit zu verstehen ist – sei demnach ein Risiko in der modernen Arbeitswelt: Zu viele sind auch noch in den eigenen vier Wänden für die Kolleginnen und Kollegen erreichbar und erledigen einen Teil der Arbeit noch abends im Bett. „Es gibt einige Bereiche in der Arbeitswelt, die sehr anfällig für Selbstausbeutung sind. Die Mitarbeitenden arbeiten dann vielleicht länger, sind aber oft nicht produktiver – also hat niemand gewonnen“, sagt der Arbeitspsychologe Tim Hagemann von der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld.

Arbeitspsychologe: Zeiterfassung „kein Allheilmittel gegen Ausbeutung“

In solchen Fällen ergebe eine Arbeitszeiterfassung Sinn – doch eine flächendeckende Pflicht sehe der Experte skeptisch. „Ich halte wenig davon, die Arbeitszeiterfassung für alle Bereiche zu verordnen. Sie ist zwar ein Instrument, das sinnvoll sein kann, aber sie muss auch zu der Kultur im Betrieb passen und sollte zwischen den Arbeitgebern und Arbeitnehmern ausgehandelt werden“, betont Hagemann. Denn das Modell der Vertrauensarbeitszeit könne in manchen Bereichen der Arbeitswelt auch viele Vorteile haben: Es könne Arbeitnehmerinnen und Arbeitern einen hohen Grad an Selbstbestimmung geben und eine agilere Arbeit ermöglichen – darunter beispielsweise in der Forschung und in kreativen Berufen.

Doch Hagemann betont, dass die Vertrauensarbeitszeit aus Sicht des Arbeitsschutzes eine Gradwanderung und die Grenze zur Selbstausbeutung schnell überschritten sei. Denn oft werden nicht nur die Arbeitszeiten nicht erfasst, sondern auch die Überstunden – obwohl das in Deutschland sowieso schon Pflicht ist. Florian Schweden, Arbeitspsychologe und Geschäftsführer des Instituts für Arbeitsgestaltung und Organisationsentwicklung, gibt jedoch zu bedenken: Auch die Zeiterfassung sei „kein Allheilmittel gegen Ausbeutung“. „Wenn Führungskräfte ein viel zu hohes Ziel setzen, dann können die Beschäftigten das nur erreichen, wenn sie noch schneller und länger arbeiten – davor schützt auch die Zeiterfassung nicht“, sagt er.

Zeiterfassung: Die Angst vor dem „bürokratischen Monster“

Manche Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sehen das Grundsatzurteil auch aus anderen Gründen kritisch: „Damit werden Beschäftigte und Unternehmen ohne gesetzliche Konkretisierung überfordert“, sagte Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Arbeitgebervereinigung BDA in einer Mitteilung. Hagemann führt die kritische Haltung mancher Arbeitgebenden auch darauf zurück, dass sie die Einführung eines Systems zur Zeiterfassung für „ein bürokratisches Monster“ halten. „Gerade in den Bereichen, in denen es ohne Zeiterfassung gut funktioniert, stellt sich die Frage des Nutzens“, sagt der Arbeitspsychologe.

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Soziologin Tisch hält die Angst vor einem zu hohen bürokratischen Aufwand nicht für zeitgemäß. „Die Befürchtungen sind veraltet, dass mit dem Urteil künftig eine große und aufwendige Dokumentation einhergeht. Durch die Digitalisierung gibt es eine Menge sehr einfacher Möglichkeiten, Arbeitszeiten per App oder Programme zu erfassen“, sagt sie. Selbst im Homeoffice sei dies möglich – und auch ein Weg für Beschäftigte, ihre Arbeitszeit und Leistung sichtbar zu machen, wenn sie nicht im Büro sind.

Schweden sagt dagegen, dass die Zeiterfassung im Homeoffice schwierig sei, „weil Beschäftigte fragmentiert arbeiten und ihre Zeiten über den Tag verteilen.“ Sprich: Am Vormittag wird gearbeitet, dann Haushalt gemacht, anschließend wieder zwei Stunden geackert– und nachdem die Kinder ins Bett gebracht wurden, wird auch der Rest der Arbeitszeit erledigt. In solchen Fällen könne laut Schweden eine Zeiterfassung nützlich sein, um die damit einhergehenden Belastungen zu steuern.

Arbeitsschutz: Es braucht mehr als eine Zeiterfassung

Tisch betont, dass viele Arbeitgeber aber ohnehin kein Problem damit haben, Arbeitszeiten zu erfassen – das zeigten auch die Studien. Schließlich kann das System für sie Vorteile haben, wie Schweden erklärt: „Die Arbeitszeiterfassung kann auch für Arbeitgeber eine Schutzfunktion haben: Sie können auf einer rationalen Ebene beurteilen, ob ein Mitarbeiter überlastet ist und zu viel arbeitet oder nicht“, sagt er.

Doch auch unabhängig von der Arbeitszeiterfassung braucht es in Deutschland einen besseren Umgang mit der Länge der Arbeit, wie der Experte erklärt. Allein im Jahr 2020 wurden 1,67 Milliarden Überstunden hierzulande geleistet – über die Hälfte davon unvergütet. Das hält auch Tisch für problematisch: „Die Arbeitszeiterfassung ist ein Instrument, aber noch lange nicht die einzige Maßnahme für einen besseren Arbeitsschutz. Für jeden Betrieb ist es wichtig, Kulturen zu schaffen, in denen Entgrenzung und überlange Arbeitszeiten verhindert sowie Pausen eingehalten werden“, sagt sie.

Wichtig sei dabei auch, dass die Führungskraft eine gute Work-Life-Balance vorlebt. Zum Beispiel indem sie zeigt, dass es einen Feierabend gibt und man dann nicht mehr erreichbar sein muss. Schweden sagt, dass zudem Transparenz und Vertrauen – auch hinsichtlich der Arbeitszeiten – wichtig für eine gesunde Arbeitskultur sei. „Führungskräfte sollten mit Beschäftigten gemeinsam Deadlines und Ziele aushandeln. Dann können sie auch die Arbeit besser verteilen und ihre Mitarbeiter vor Überlastung schützen“, betont der Arbeitspsychologe.