Aus Deutschland an die FrontIgor zieht für die Ukraine in den Krieg gegen Russland

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Ukraine Soldat 030322

Ukrainische Soldaten (Symbolfoto)

Es liegt alles bereit. Auf dem Tisch, zwischen Sofa und Fernseher: der Stahlhelm, mit Tarnfleck überzogen. Die Schutzweste. Zwei schwere schwarze Platten, die er in die Weste einlegen muss, damit sie ihn vor Kugeln schützen. Ein Paar Knieschützer. Und, auf der Couch, am Fußende: fünf Kampfmesser, eingepackt in schwarze Holster. Alles das wird er brauchen.

Eine Erdgeschosswohnung in Bad Oldesloe, zwischen Hamburg und Lübeck, Mehrfamilienhaus, roter Backstein, hier sitzt Igor in seinem Wohnzimmer. Seit elf Jahren lebt er hier, nicht weit vom Bahnhof, seit 30 Jahren ist er in Deutschland. Igor wirkt nicht wie ein Kämpfer, einerseits. Er ist 56 Jahre alt, eher klein, 1,65 Meter, „jedenfalls, als ich mich zuletzt gemessen habe“. Glatze, grauer Vollbart, gerader Blick. Und andererseits wirkt er durchaus kämpferisch, drahtig, trainiert. Er ist Ringer, Judoka, Kampfsportler, Vorbild Bruce Lee, dessen Poster an seiner Schlafzimmertür hängt. Und dazu entschlossene Worte.

„Wenn ich sterben muss“, sagt Igor, „dann wenigstens für eine gute Sache.“ Und die Verteidigung seines Landes, der Ukraine, so pathetisch muss man es wohl sagen, das wäre für ihn nicht nur eine gute, sondern derzeit vielleicht die beste Sache.

Kämpfer aus dem Ausland

Seit über einer Woche währt nun der Angriff Russlands auf die Ukraine, und klar ist, dass dieser Krieg nun auch immer mehr Kämpfer aus dem Ausland anzieht. Das ukrainische Verteidigungsministerium hat eine „Internationale Legion“ gegründet, der sich Ausländer anschließen können. Rund 1000 Männer sollen sich dieser Truppe schon angeschlossen haben, so hat es Außenminister Dmytro Kuleba erklärt, sogar aus Japan sollen einige dabei sein.

Auch Anfragen von Deutschen habe es gegeben, bestätigt eine Sprecherin der Botschaft in Berlin. Anfangs habe man sich auch um Vermittlung bemüht, seit dem Aufruf jedoch schicke man sie direkt an die Grenze. Deutsche Extremisten soll die Bundespolizei nun gegebenenfalls an der Ausreise hindern, so erklärt es das Bundesinnenministerium, es geht vor allem um Rechtsextremisten. Eine „niedrige einstellige“ Zahl sei bislang bekannt, dazu gebe es Aufrufe, alle pro Ukraine. Was bei Rechtsextremisten nicht selbstverständlich ist, die bislang auch häufig mit Russland sympathisierten.

Zivilisten in Trümmern 020322

Ein bewaffneter Ukrainer trägt ein Kind durch Trümmer in der Nähe von Kiew.

Vor allem aber sind es Ukrainer, die nun auch aus westlichen Ländern zurück in ihre Heimat wollen. 80 000 sollen es inzwischen sein, so auch wiederum der Verteidigungsminister, die bereits zurückgekehrt seien.

Bei Igor in Bad Oldesloe läuft, sobald er daheim ist, pausenlos der Fernseher. Ukrainisches Fernsehen, Bilder von ausgebrannten Fahrzeugen, zerstörten Häusern, Menschen, die in Metrostationen kauern. „Unerträglich“, sagt Igor. „Unfassbar.“

Mit dem Alfa Romeo in den Krieg

Dann klingelt das Telefon, seine Mutter. 82 Jahre ist sie, sie lebt in Ternopil, westliche Ukraine. Ein Gespräch auf Ukrainisch, „sie haben wieder Luftalarm“, erklärt er. Aber seine Mutter ist zu müde, in den Schutzraum zu gehen. „Sie hat sich in die Badewanne gelegt.“ Als sei das Schutz genug.

In der kommenden Woche, das ist jetzt Igors Plan, will auch er los. Will in seinen 18 Jahre alten Alfa Romeo GT Diesel steigen und an die Grenze fahren. Nur bis dahin will er warten. Bis er seine Cousine versorgt hat, die auf der Flucht und auf dem Weg zu ihm ist. „Ist Familie“, sagt er, also werde er sich kümmern.

Und mit seinem Arbeitgeber müsse er auch noch eine Lösung finden. Igor arbeitet bei einem großen Unternehmen, im Versand, lange schon, im nächsten Jahr hätte er sein 25-jähriges. Als er seinem Chef sagte, dass er in die Ukraine zum Kämpfen müsse, habe der als Erstes gefragt, wie viel Urlaub er denn noch habe. „Ein Missverständnis“, sagt Igor. „Ich komme zurück, wenn alles vorbei ist. Vorher kann ich gar nicht.“ Ein Krieg und das deutsche Tarifrecht, das passt nicht gut zusammen.

Wer in der ukrainischen Community nach Menschen fragt, die planen, in die Ukraine in den Krieg zu ziehen, der hört von einzelnen jungen Männern, die sich schon auf den Weg gemacht hätten. Der trifft auch auf deutsche Ehemänner ukrainischstämmiger Frauen, deren Grundwehrdienst schon Jahrzehnte zurückliegt, die kein Ukrainisch sprechen und sich dennoch unter Tränen fragen, ob sie sich nicht wenigstens als Sanitäter in der Truppe nützlich machen könnten.

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Und man trifft auf ehemalige Soldaten mit brüchigen Biografien, in denen sich die schwierige Geschichte der Ukraine spiegelt. Und bei denen die Grenze zwischen Extremismus und Idealismus nicht leicht zu ziehen ist.

In Igors Wohnzimmer hängt an der Wand ein Madonnenbild, sie in gelb-blauem Gewand, ein Schal um den goldfarbenen Rahmen gehängt. Daneben, auch an der Wand, der Text der ukrainischen Nationalhymne, gestickt auf weißes Tuch, darunter schwarz-rote Fähnchen seiner Einheit und die Bilder ukrainischer Nationalisten. Es sind die beiden gedanklichen Pole in Igors Leben: Der Glaube, zu dem er als Erwachsener fand. Und die Nation, die ihm heilig ist.

Partei und Miliz zugleich

Die Organisation, zu der Igor gehört, heißt „Prawyj Sektor“, zu Deutsch „Rechter Sektor“, sie ist zugleich Partei und Miliz. Sie wurde 2013 gegründet, verteidigte die Proteste der Unabhängigkeitsbewegung auf dem Maidan, auch mit Gewalt. Danach jedoch widersetzte sie sich der Entwaffnung, die im Minsker Abkommen festgeschrieben wurde, ging auf eigene Faust gegen die prorussischen Separatisten vor, störte sich an einer EU-Annäherung der Ukraine und gilt als rechtsextrem.

Igor, der Ukrainer im Bad Oldesloer Exil, beteuert, er wolle mit dem politischen Teil des Rechten Sektors nichts zu tun haben. Für Demokratie sei er, für die Verständigung mit Ausländern, für Menschenrechte. „Aber wenn nationalistisch heißt, dass ich für die Ukraine bin, dann bin ich nationalistisch.“ Und vor allem heißt es: gegen Russland. Was wohl auch an seiner Familiengeschichte liegt.

Igors Geschichte lässt sich nicht nur bedingt überprüfen. Wie er sie erzählt, beginnt sie mit seiner Mutter, die wegen ihrer Nähe zur Widerstandsbewegung gegen die Sowjets acht Jahre im Lager in Sibirien gesessen habe. Er wuchs auf in rauen Verhältnissen, „aber ich wusste mich zu wehren“. Igor sei – auch das entstammt seiner Schilderung – zur Roten Armee gegangen, diente dort sechs Jahre, zwei davon in der Mongolei, am Ende in der DDR – wo er Anfang der Neunzigerjahre, nach dem Mauerfall, desertiert sei.

Regelmäßiges Schießtraining

Igor stellte einen Asylantrag, kam nach Bad Oldesloe. Und blieb. Heiratete, hat einen Sohn, heute 14, der bei der Mutter lebt, Igor ist von ihr geschieden. Seit 2015 hat er die ukrainische Staatsangehörigkeit und fuhr zum ersten Mal wieder in die Ukraine. Vorher habe er sich nicht getraut. „Die Sowjetunion, dachte ich, ist dort noch überall.“ Dann trat er auch dem Rechten Sektor bei. Fuhr regelmäßig auch zu Schießtrainings hin. In Ternopil wickelt seine 82-jährige Mutter für die Kämpfer des Rechten Wegs nun Kohlrouladen. „60 Stück hat sie schon gemacht.“

Es ist ein neuer Krieg. Aber es ist ein alter Kampf, den Igor und seine Mutter nun weiterkämpfen. Einer mit einer langen Vorgeschichte.

Kiew am Morgen 280222

Explosionen in Kiew (Archivbild)

Der Rechte Sektor, Igors Einheit, ist bis heute nicht Teil der ukrainischen Armee. Er kämpfe, in Abstimmung mit der Armee, oft an vorderster Front. „Wo es anderen zu gefährlich wird, da gehen sie hin“, sagt jemand, der die Strukturen kennt.

Konfliktforscher sehen gerade darin eine Gefahr. Weil mit Milizen in einem solchen Krieg die Gefahr von Gräueltaten noch weiter steige, die Kontrolle gering sei und diese auch Waffenstillstandsabkommen verletzen könnten. Wenn es diese denn erst mal gibt.

Für viele Ukrainer aber zählt allein, dass sie sich dem russischen Angriff in den Weg stellen. „Sie können kämpfen, sie kämpfen mit unserer Armee, das ist entscheidend“, sagt jemand, der in Deutschland ukrainische Proteste mit organisiert.

Die letzten Dinge regeln

Welche Rolle der Rechte Sektor in diesem Krieg spielt, ist kaum zu sagen. Vor einigen Jahren noch soll die Mitgliederzahl bei 10 000 gelegen haben. Jetzt gibt es Berichte, dass auch Ukrainer aus der französischen Fremdenlegion freigestellt seien und auf dem Weg in das Land seien – was sowohl die Legion selbst als auch die französische Botschaft auf Anfrage nicht bestätigen.

Igor hält mit seiner Einheit per Messenger Kontakt. „Wann kommst du?“, fragt sein Kommandeur immer wieder. Er kann jetzt sagen: Kommende Woche, ganz sicher.

Am Donnerstag, zwei Tage nach dem Gespräch in seiner Wohnung, einigt er sich mit seinem Arbeitgeber. Auf einen Aufhebungsvertrag. Mit Abfindung. Ein Jahr lang reicht das Geld, hat Igor ausgerechnet. Er kann seine Wohnung halten. Und er kann zurückkehren, in den alten Job. „Ich bin so erleichtert“, sagt er auf dem Heimweg.

Er kann jetzt die letzten Dinge regeln. Sein Auto, den alten Alfa, noch mal in die Werkstatt bringen. Und bei Ebay das kaufen, was er noch braucht, Medizinisches vor allem. Blutstillende Gaze. Zwei Tourniquets, Gurtsysteme, um stark blutende Arme und Beine abzubinden. Eine Trachealkanüle, um nach einem Luftröhrenschnitt die Atmung zu ermöglichen. Alles Dinge, die ihm selbst das Leben retten sollen. Jeder wird mit dem Material behandelt, das er selbst bei sich hat, sagt Igor. Das ist die Regel.

Wie dieser Krieg enden soll? Ob es irgendeine Verhandlungslösung geben kann? Etwas, das das Morden beendet? „Wir werden siegen“, sagt Igor. Etwas anderes scheint für ihn nicht denkbar. Ob er doch manchmal Angst hat vor dieser gewaltigen russischen Übermacht? Vor dem Tod? Nein, antwortet er. Die spüre er nicht. Vielleicht im Auto, auf dem Weg. Aber vorher nicht. Der Plan ist, zunächst zu seiner Mutter zu fahren. Dort, so ist es abgemacht, werde er erfahren, wie es weitergeht.