CoronaDroht die Impfkampagne von Bund und Ländern zu scheitern?

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Symbolbild

Berlin – Hubert Aiwanger ist ein Politiker, der häufig in der Kritik steht. Als „falscher Mann zur falschen Zeit im falschen Amt“ wurde der stellvertretende bayerische Ministerpräsident schon bezeichnet, als „Hofnarr“ oder als „Staatsminister für Populismus“. Doch seit einigen Wochen genießt der Chef der Freien Wähler zumindest in bestimmten Bevölkerungsgruppen Kultstatus: Aiwanger ist der einzige Regierungspolitiker, der sich offen dazu bekannt hat, sich nicht impfen lassen zu wollen. Aiwanger streut zudem öffentlich Zweifel an der Sicherheit und Wirksamkeit der Impfstoffe. Und er verbreitet nachweislich falsche Informationen über die Relevanz des Impfens.

Als „hochproblematisch und irritierend“ kritisiert SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach das Verhalten des bayerischen Wirtschaftsministers. Es sei sein gutes Recht, sich nicht impfen zu lassen. Aber mit seinen Aussagen stelle er sich gegen den Konsens der Wissenschaft. „Das wirft auch Fragen auf, wie zuverlässig Aiwanger in anderen Bereichen ist“, so Lauterbach.

Dennoch wäre es wohl falsch, seine Äußerungen einfach als fehlgeleitetes Querdenkertum abzutun. Denn Aiwanger mag zwar ein eigenwilliger Politiker sein. Er hat sich allerdings den Ruf erarbeitet, immer wieder Themen aufzugreifen und sich zu eigen zu machen, die die Menschen vor Ort bewegt – was auch Regierungschef Markus Söder (CSU) weiß und nach Ansicht von Beobachtern in München mitunter nutzt, um eigene Schwerpunkte zu setzen.

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Impfkampagne verläuft schleppend

Dass Aiwanger beim Thema Impfen nicht allein steht, ist am schleppenden Verlauf der bundesweiten Impfkampagne klar zu erkennen. Obwohl es inzwischen genug Impfstoff gibt, sinkt die Zahl der täglichen Impfungen immer weiter. Was hält die Menschen von einer Impfung ab? Kann man sie noch überzeugen? Und was passiert, wenn die Impfquote nicht für die sogenannte Herdenimmunität ausreicht? Ein Überblick:

Die radikalen Impfgegner: Sie lehnen Impfungen generell ab, also auch die Immunisierung gegen Masern oder Tetanus. Das Robert-Koch-Institut (RKI) schätzt ihren Anteil auf zwei bis fünf Prozent der Bevölkerung. Die Impfgegner, häufig zu finden unter Anhängern der Homöopathie und der Anthroposophie, glauben unter anderem, dass Impfungen den natürlichen Kreislauf des Lebens stören und das Immunsystem schwächen. Sie sind davon überzeugt, dass ein Schutz nur gegeben ist, wenn die Erkrankungen selbst durchgemacht werden. Verbreitet sind auch Mythen, wonach Impfungen zu gefährlichen Krankheiten führen, etwa Autismus. All das ist seit langem wissenschaftlich wiederlegt. Experten sind sich gleichwohl einig, dass die radikalen Impfgegner von einer Corona-Impfung nicht überzeugt werden können.

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Die Querdenker: Viel stärker als bei den radikalen Impfgegnern sind bei dieser Gruppe Verschwörungstheorien verbreitet, die sich in der Regel damit beschäftigen, dass wahlweise der Staat, die Pharmaindustrie oder irgendeine geheime Macht eine Impfung dazu nutzt, die Menschen zu unterjochen – zum Beispiel durch heimlich injizierte Chips. Unter den Anhängern finden sich viele radikale Impfgegner – aber eben nicht nur. Der harte Kern dürfte sich kaum umstimmen lassen, aber es gibt Berichte, wonach die Bewegung an Zulauf verliert und sich Mitläufer abwenden. Ob sich diese Menschen am Ende doch noch impfen lassen, ist fraglich, aber zumindest nicht ausgeschlossen.

Die Impfskeptiker: Dazu zählt das RKI etwa 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung. Sie gelten als empfänglich für irreführende Informationen, sind aber nicht per se gegen eine Impfung. Typische Vorbehalte: Die Impfstoffe können gar nicht sicher sein, weil sie in Rekordzeit entwickelt wurden. Bedenken gibt es auch gegen die Wirkungsweise der neuen mRNA-Impfstoffe. Viele Menschen lassen sich zudem abschrecken, weil Geimpfte angeblich starke „Nebenwirkungen“ erlebt hätten. Auch Aiwanger sagte in einem Interview, er höre in seinem privaten Umfeld von Nebenwirkungen, bei denen einem „die Spucke wegbleibe“. Konkrete Beispiele wollte er allerdings nicht nennen.

Sorgen und Bedenken werden nicht aufgegriffen

Die Impfskeptiker kann und muss man überzeugen, um die Impfkampagne zu einem Erfolg zu führen. Offenbar werden aber deren Sorgen und Bedenken in der bisherigen Werbe- und Informationskampagnen der Regierung nicht richtig aufgegriffen. Es müsse darum gehen, die Leute für eine Impfung zu gewinnen, die sich nicht ausreichend informiert fühlten und Ängste hätten, die man ihnen nehmen könnte, schreibt zum Beispiel der Linken-Politiker Jan Korte in einem Papier, das dem RND vorliegt.

Dabei sind viele Irrtümer leicht aufzuklären, etwa die Verwechselung von Impfreaktion und Nebenwirkung. Schmerzen an der Einstichstelle, Kopfschmerzen oder Fieber sind typische Reaktionen kurz nach der Impfung. Sie zeigen an, dass der Körper reagiert und Antikörper aufbaut. Unerwünschte Nebenwirkungen können hingegen lang anhaltend sein und zu Komplikationen führen. Bei allen zugelassenen Corona-Impfstoffen sind solche ernsten Erkrankungen aber bisher äußerst selten aufgetreten.

Muslime: Es gibt die Befürchtung, unter den rund 5,5 Millionen Muslimen in Deutschland gebe es viele Impfgegner. Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD), Aiman A. Mazyek , weist das zurück. „Es gibt für Muslime keine religiösen Gründe, das Impfen gegen Corona abzulehnen. Im Gegenteil: Der Schutz anderer vor Krankheiten und die eigene gesundheitliche Unversehrtheit sind im Islam ein hohes Gut.“ Es gebe zwar auch unter Muslimen „Querdenker, die die unsinnigsten Verschwörungsgeschichten versuchen zu verbreiten“. Sie hätten jedoch wenig Erfolg. Zwei Drittel der Moscheegemeinden in Deutschland böten vor allem an Wochenenden Impfaktionen an. „Die Resonanz, auch in der nichtmuslimischen Nachbarschaft der Gotteshäuser, ist hoch“, berichtet er.

Quotenziel kaum zu erreichen

Die Herdenimmunität: Da die ansteckende Delta-Variante inzwischen in Deutschland vorherrschend ist, geht das RKI davon aus, dass mindestens 85 Prozent der 12- bis 59 –Jährigen vollständig geimpft sein müssen, um die Pandemie in den Griff zu bekommen und eine starke vierte Welle zu verhindern. Bei den Senioren ab 60 müsse die Quote 90 Prozent betragen. Von beiden Werten ist Deutschland noch weit entfernt: Bei den 12- bis 17-Jährigen beträgt die Quote aktuell 8,9 Prozent, bei den 18- bis 59-Jährigen 50,9 Prozent und bei den über 60-Jährigen 78,6 Prozent. Gelingt es nicht, einen Großteil der Impfskeptiker zu gewinnen, dann ist das Quotenziel nicht zu erreichen.

Allerdings wird selbst nach Berechnungen des RKI schon bei einer Quote von 75 Prozent eine vierte Welle keine Überlastung des Gesundheitswesens mehr mit sich bringen. Die kritische Grenze liegt demnach irgendwo zwischen 65 und 75 Prozent. Auch dazu müssen allerdings zumindest Teile der Impfskeptiker überzeugt werden, sich doch noch impfen zu lassen.

Impfpflicht ist verfassungsrechtlich möglich

Ausweg Impfpflicht? Turkmenistans autoritärer Präsident Gurbanguly Berdymuchammedow macht es vor: In der Ex-Sowjetrepublik sind alle Bürger ab 18 verpflichtet, sich gegen Corona impfen zu lassen. In Deutschland ist eine allgemeine Impfpflicht zwar verfassungsrechtlich möglich - bis Ende 1975 gab es diese gegen die Pocken. Für Corona wäre aber eine Gesetzesänderung durch den Bundestag notwendig, wofür es keine Mehrheit gibt.

Frankreich, Griechenland oder Italien gehen einen anderen Weg. Sie haben für das gesamte Personal in Krankenhäusern und Altenheimen eine Impfpflicht eingeführt. Unter Juristen ist umstritten, ob das auch in Deutschland möglich ist. Wahrscheinlich wäre dazu eine Gesetzesänderung nötig. Das Vorbild der Masern-Impflicht, die auch für das Kita- und Schulpersonal gilt, taugt nur bedingt: Bei der Masern-Schutzimpfung ist sicher, dass Immunisierte niemanden mehr anstecken können. Dieser Nachweis fehlt bisher bei der Corona-Impfung. Damit dient diese Impfung primär dem eigenen Gesundheitsschutz. Hier kann der Arbeitgeber nicht mitreden. Zudem können sich Beschäftigte immer auf die fehlende allgemeine Impfpflicht berufen.

Nachteile für Ungeimpfte als Ausweg

Damit ist auch die von Google oder Facebook in den USA verhängte Impfpflicht für Büromitarbeiter hierzulande nicht möglich. Eine Diskriminierung von Ungeimpften am Arbeitsplatz ist unzulässig.

Nachteile für Ungeimpfte? Das gilt in der Politik derzeit als effektivster Weg, unentschlossene vom Impfen zu überzeugen – auch wenn das so klar selten gesagt wird. Die neue Einreiseverordnung ist ein weiteres Beispiel dafür, wie die Bundesregierung die unterschiedliche Behandlung Schritt für Schritt ausbaut. Zudem herrscht breite Einigkeit darüber, dass Corona-Tests spätestens am Herbst selbst bezahlt werden müssen, wenn sie nicht medizinisch erforderlich sind. Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch, dass Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) immer wieder darauf hinweist, wonach es die Vertragsfreiheit erlaube, wenn zum Beispiel Gastronomen nur noch Geimpfte einlassen.

Fazit: Die Bundesregierung muss dringend ihre Impfkampagne ausbauen und mehr Aufklärung betreiben. Einfache „Lass-Dich-Impfen“-Kampagnen reichen nicht aus. Am Ende dürfte jedoch der zunehmende Wegfall von Beschränkungen für Geimpfte und damit eine Benachteilung von (gewollt) Ungeimpften einen hohen Druck aufbauen. Ein solches Vorgehen ist gerechtfertigt: Wer sich nicht impfen lässt, gefährdet nicht nur sich selbst, sondern auch andere – insbesondere Kinder, für die es noch keine zugelassenen Impfstoffe gibt.