Corona-Pandemie„Weiterleben oder Sterben“ – Bundestag muss Triage regeln

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Noteinsatz NRW

Herten, NRW: Die Besatzung eines niederländischen Krankenwagens schiebt einen Covid-19-Patienten im St. Elisabeth Hospital.

Berlin – Das Bundesverfassungsgericht hat die Politik dazu verpflichtet, Menschen mit Behinderungen bei einer Triage-Situation gesetzlich vor einer Benachteiligung zu schützen und Entscheidungen nicht allein medizinischen Fachgesellschaften zu überlassen. Ärzte und Ärztinnen bräuchten rechtlich verbindliche Grundlagen für Entscheidungen, wen sie angesichts pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Ressourcen retten sollen und wen nicht, heißt es in einem am Dienstag veröffentlichen Beschluss der Karlsruher Richter. Sie überließen es dem Parlament, auf welche Weise eine Benachteiligung verhindern werden soll. Entsprechende Vorkehrungen müssten allerdings „unverzüglich“ getroffen werden, verlangte das Gericht.

Mit seiner Entscheidung gab das Gericht neun Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen Recht, die Verfassungsbeschwerde eingereicht hatten. Bisher gibt es für eine Situation, in der Ärztinnen und Ärzte aufgrund einer Vielzahl von lebensbedrohlich erkrankten Patienten eine Auswahl bei der medizinischen Versorgung treffen müssen, keine gesetzliche Regelung. Zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 legten daher die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin und andere Fachgesellschaften „Klinisch-ethische Empfehlungen“ zur Triage vor.

Klägerinnen und Kläger sahen Triage-Kriterien mit Sorge

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Die Klägerinnen und Kläger sahen die dort genannten Kriterien aber mit Sorge, weil auch die Gebrechlichkeit des Patienten und zusätzlich bestehende Krankheiten dabei eine Rolle spielen. Sie befürchten, aufgrund ihrer statistisch schlechteren Überlebenschancen immer das Nachsehen zu haben. Das Verfassungsgericht schloss sich dieser Argumentation an und sieht sogar die Gefahr, „dass die Empfehlungen in ihrer derzeitigen Fassung zu einem Einfallstor für eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen werden können“. Es müsse sichergestellt sein, „dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird“.

Das Bundesverfassungsgericht erklärte, aus dem Grundgesetz ergebe sich eine Pflicht für den Gesetzgeber, das höchstrangige Rechtsgut Leben zu schützen. Diese habe er verletzt, weil er keine Vorkehrungen getroffen habe. Bei deren konkreter Ausgestaltung hat das Parlament nach der Entscheidung des Gerichts einen Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum. So überließen es die Richter dem Gesetzgeber, zum Beispiel eigene Kriterien für Triage-Entscheidungen festzulegen. Möglich sei auch, ein Mehraugen-Prinzip bei der Auswahl vorzuschreiben oder Vorgaben für die Aus- und Weiterbildung in Medizin und Pflege zu machen, um Benachteiligungen wegen einer Behinderung in einer Triage-Situation zu vermeiden, erklärte das Karlsruher Gericht.

Urteil stößt auf breite Zustimmung

Das Urteil stieß auf breite Zustimmung. „Der Bundestag darf sich jetzt nicht mehr wegducken“, sagte der Vorstand der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Er steht jetzt in der Verantwortung, Kriterien für die Triage festzulegen. Schließlich geht es bei der Entscheidung um Weiterleben oder Sterben“, fügte er hinzu. Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, erklärte, der Staat habe nun eine konkrete Schutzpflicht und müsse Maßnahmen ergreifen, damit es keine Benachteiligung gebe. „Vor allem aber mahne ich an, alles Menschenmögliche zu tun, damit es nicht zu einer Überlastung des Gesundheitswesens kommt“, betonte die EKD-Chefin. „Nach wie vor ist eine möglichst hohe Impfquote dafür eine wichtige Voraussetzung.“

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Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) kündigte an, die Regierung wollen nun „zügig“ einen Entwurf zum Schutz von Menschen mit Behinderung vorlegen. Die Vize-Fraktionschefin der Grünen, Maria Klein-Schmeink, kündigte an, dass die Ampelparteien das Thema auch mit Union und Linkspartei beraten wollten. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, dringt darauf, dass Menschen mit Behinderungen und deren Organisationen beim Gesetzgebungsprozess einbezogen werden. Sie müssten als Expertinnen in eigener Sache beteiligt werden, sagte Dusel dem RND. (RND)