TeilmobilmachungPutin zieht seine letzten Register

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Putin Adygea

Wladimir Putin, Präsident von Russland, gestikuliert im Staatlichen Kremlpalast in Moskau.

Mit der Teilmobilmachung will Wladimir Putin 300.000 zusätzliche Soldaten zusammentrommeln. Zugleich droht er mit dem Einsatz von Atomwaffen. Allerdings wächst jetzt auch die Unruhe in Russland – und das politische Risiko für Putin selbst.

Die Reaktion der Russen war eindeutig. Sie wurde sogar objektiv gemessen. Als in Russland die Nachricht von der Teilmobilmachung die Runde machte, registrierte Google plötzlich landesweit massenhaft Suchanfragen zu der Frage, „wie man Russland verlässt“.

Das Phänomen wurde in Grafiken festgehalten, wie jeder neue Google-Trend. Triumphierend reichen Kritiker Wladimir Putins jetzt die hochschießende Kurve herum wie eine Trophäe: Seht her, hier ist nach Monaten der Beschallung durch die verlogenen Staatsmedien zur Abwechslung mal etwas Wahres und Klares, ein Vitalitätszeichen aus den Tiefen der russischen Gesellschaft.

Von Anfang an mehr Apathie als Zustimmung

Tatsächlich markiert die Kurve eine Risslinie, die dem Kreml noch gefährlich werden könnte. Der Krieg in der Ukraine treibt inzwischen Regierende und Regierte in Russland auseinander.

Monatelang schien es, als habe Putin für seinen Überfall aufs Nachbarland breite Mehrheiten in Russland hinter sich. „In Wirklichkeit war das schon von Anfang an mehr Apathie als Zustimmung“, sagt der Militärexperte Nico Lange, bis 2019 Chef des Leitungsstabs im Berliner Verteidigungsministerium. „Die Einschätzung der Leute ändert sich schlagartig, wenn sie glauben, sie könnten selbst betroffen sein.“

Russische Regimekritiker wie der im Exil lebende Leonid Wolkow sprechen von einem seit Langem andauernden großen Schleiertanz. Die Regierung belüge das Volk, das Volk aber belüge auch die Regierung. Leute in den politisch entscheidenden Metropolen Moskau und St. Petersburg hätten monatelang so getan, als würden sie den Krieg unterstützen - im Gegenzug habe Putin auf eine allgemeine Mobilmachung verzichtet.

Müssen Eliten ihre Jungs in den Krieg schicken?

Was aber geschieht nun? Müssen nun doch die städtischen Eliten ihre Jungs in einen Krieg schicken, deren Sinn sich ihnen nie erschlossen hat?

Mehrere Hunderttausend junge Leute, darunter viele IT-Spezialisten, haben sich schon zu Kriegsbeginn ins Ausland abgeseilt. Jetzt folgt eine zweite Welle. Flüge nach Istanbul, Eriwan oder Tiflis sind ausgebucht. Die One-Way-Tickets gehen derzeit für rund 3000 Dollar über den Tisch, vor Putins Rede genügten 350 Euro.

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Nach dem Befehl zur Teilmobilmachung müssen sich Russen im wehrpflichtigen Alter laut Gesetz an ihrem Wohnort aufhalten. „Bürgern, die (als Reservisten) im Militärregister erfasst sind, ist ab dem Moment der Mobilisierung das Verlassen des Wohnorts ohne Genehmigung der Militärkommissariate und der für Reserven zuständigen Exekutivorgane verboten„, heißt es in dem seit Mittwoch aktuellen „Gesetz über die Mobilmachung in Russland“.

Laut dem Leiter des Verteidigungsausschusses in der Duma, Andrej Kartapolow, betrifft die Einschränkung der Reisefreiheit vor allem Auslandsurlaube. „Sie können weiter ruhig auf Dienstreise nach Krasnodar oder Omsk fahren, aber ich würde Ihnen nicht raten, in türkische Kurorte zu fahren - erholen Sie sich lieber in den Badeorten der Krim und des Gebiets Krasnodar„, sagte der Abgeordnete am Mittwoch.

Nur Menschen mit militärischer Erfahrung

Die Teilmobilmachung, betont Putins Verteidigungsminister Sergei Shoigu, erfasse nur Leute, die bereits militärische Erfahrung haben. Keine Sorgen machen müssten sich demnach heutige Studenten oder angehende Wehrpflichtige.

Regimekritiker Wolkow, Stabschef des inhaftierten Putin-Gegners Alexej Nawalny, glaubt davon kein Wort. Teilmobilmachung sei Kreml-Sprech, ein orwellianisches Wort wie die Ende Februar ausgerufene „militärische Spezialoperation“.

„Passen Sie gut auf sich und Ihre Lieben auf”

Wolkow warnte seine Landsleute am Mittwoch im Messengerkanal Telegram: „Sie werden einfach jeden schnappen, den sie fassen können. Passen Sie gut auf sich und ihre Lieben auf.“ Russland dürfe es Putin nicht erlauben, „Zehntausende von Vätern, Ehemännern und Söhnen durch den Fleischwolf seines Wahnsinns zu drehen.“

Hat jetzt die russische Opposition endlich ein Thema gefunden, bei dem sich etwas bewegen lässt im Land? Schon im April orakelte Wolkow in einem RND-Interview: „Wir registrieren eine sich verändernde russische Wirklichkeit hinter den Fassaden – trotz der von Putin erzwungenen Ruhe auf den Straßen.“

Was hinter den Fassaden gedacht wird, scheint Putin aber egal zu sein - solange er immer neue Machtmittel auf sein Volk niederfahren lassen kann wie Hammerschläge.

Im Frühjahr, zum Beginn der Offensive, wurde durch ein neues Gesetz bloße verbale Kritik am Krieg mit 15 Jahren Haft bedroht. Am Dienstag dieser Woche verschärfte das Parlament in Moskau die Strafandrohungen für russische Desertuer. Die neuen Gesetze hatte man schon hastig drucken lassen, ehe sich die Abgeordneten damit befassten.

Nie war in Putins Russland die Aufgeregtheit so groß. Die Gegenoffensive der Ukraine hat offensichtlich nicht nur auf dem Schlachtfeld selbst, sondern auch im fernen Moskau einiges durcheinander gebracht. Von zunehmenden „Zeichen der Schwäche“ spricht Professor Carlo Masala von der Hochschule der Bundeswehr in München – und ist damit nicht allein.

Das Zusammentrommeln von 300.000 Mann könne lange dauern – wenn es denn je gelinge, sagen westliche Militärexperten. Und die Scheinabstimmungen in den von Russland besetzten Gebieten brächten die russische Armee nicht weiter, sondern seien ein „Signal fürs heimische Publikum“, urteilt das „Institute for the Study of War“.

Allerorten schwingt in den Einschätzungen eine Art Erstaunen mit: Glaubt Putin wirklich, sich auf diese Art aus der Affäre ziehen zu können? Oder geht es ihm nur noch darum, sich innenpolitisch irgendwie an der Macht halten zu können?

Scheinabstimmungen könnten zur Eskalation führen

Rein theoretisch, das wissen alle, könnten die Scheinabstimmungen zu einer unheilvollen Eskalation führen. Russland könnte etwa die Stadt Cherson zu russischem Staatsgebiet erklären – und Attacken der Ukraine auf die Region mit Atomwaffen beantworten. Doch auch Angriffe auf die seit 2014 besetzte Halbinsel Krim haben keineswegs zum Atomkrieg geführt.

Hinzu kommt, dass ein russischer Atomwaffeneinsatz einen – offenbar bereits programmierten – massiven konventionellen Gegenschlag der USA mit Bombern und Marschflugkörpern auslösen könnte, der die russische Armee in der Ukraine vollständig kampfunfähig machen würde. China und Indien scheinen Putin von nuklearen Drohgebärden abgeraten zu haben. Und der türkische Präsident nahm sich diese Woche die Freiheit, öffentlich zu betonen, Russland müsse alle besetzten Gebiete wieder hergeben.

„Beginn vom Untergang dieses maroden chauvinistischen Regimes”

„Das Gerede von Atomwaffen ist ein Bluff“, sagt Militärexperte Lange. Ebenso sieht es der scheidende ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk: Die deutsche Gesellschaft und die Ampel-Regierung sollten sich jetzt „nicht einschüchtern lassen“, sagte Melnyk am Mittwoch dem RND. Alle Schimpftiraden Putins samt Teilmobilmachung seien „nichts anderes als eine weitere Bankrotterklärung Russlands als Militärmacht“. Zu besichtigen sei jetzt der „Beginn vom Untergang dieses maroden chauvinistischen Regimes“.

Moskaus Staatsfernsehen jedoch glaubt eher an den Untergang der Welt als den Untergang Russlands. „Mit Blick auf das, was geschehen ist und geschehen wird, markiert diese Woche entweder den Vorabend unseres bevorstehenden Sieges oder den Vorabend eines Atomkriegs“, schreibt Margarita Simonyan, Chefredakteurin von „Russia Today“ auf Twitter. „Eine dritte Möglichkeit kann ich nicht erkennen.“