Militäranalyst im Interview„Russland hält Teil seiner moderneren Waffen noch zurück“

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Ukrainische Soldaten (Symbolfoto)

  • Der Militäranalyst Franz-Stefan Gady hat zahlreiche Kontakte ins Militär
  • Im Interview spricht er über die militärische Situation rund um Kiew und die Sinnhaftigkeit einer Flugverbotszone
  • Gady erklärt, warum er in zwei bis drei Wochen mit einer Chance für die Diplomatie rechnet.

Die große Analyse dieses Krieges, das betont der Militäranalyst Franz-Stefan Gady, wird man erst lange im Nachhinein schreiben können. Vieles liege noch im Nebel – den sowohl die russische wie die ukrainische Propaganda erzeugt. Dank einer Vielzahl von Quellen in den sozialen Medien, Kontakten ins Militär und Erfahrung lassen sich aber zumindest Grundzüge bereits erkennen. Gady, Österreicher, berät Armeen und Regierungen in den USA und Europa über Strategien und künftige Konflikte. Während der Kriege in Afghanistan und dem Irak hat er die afghanische Armee, Nato-Truppen und kurdische Milizen begleitet. Er arbeitet am International Institute for Strategic Studies in London. Herr Gady, die russischen Truppen beschießen Kiew und rücken weiter auf die Stadt vor. Worauf müssen sich die Menschen dort in den kommenden Tagen einstellen? Gady: Im Moment versuchen die russischen Truppen, die Stadt einzukreisen. Bislang haben sie das noch nicht geschafft, und sie kommen nur langsam voran. Mit großer Wahrscheinlichkeit aber wird diese Einkesselung gelingen.

Und dann?

Ist die Frage, wie dicht dieser Belagerungsring sein wird, beziehungsweise ob es Lücken gibt, um Nachschub in die Stadt zu bekommen. Aber ich glaube auch, dass die russischen Streitkräfte nicht genug Truppen haben, um diese Stadt Haus für Haus zu erobern. Sie dürfen nicht vergessen, dass man sich dort fast drei Wochen schon auf einen Häuserkampf vorbereiten konnte. Das Verhältnis Angreifer zu Verteidiger wäre hier, um voranzukommen, mindestens fünf zu eins, also fünf Angreifer auf einen Verteidiger – und da es hier eine so lange Vorbereitungszeit gab, wahrscheinlich sechs oder sieben zu eins.

Wenn also eine Eroberung nicht möglich ist: Was droht dann?

Es wird mehr Artillerie herangeschafft, um die Stadt zu beschießen, auch Luftangriffe könnten zunehmen. Und dann könnte es vielleicht ein paar kühne Vorstöße durch Spezialeinheiten geben, die man propagandistisch ausschlachten kann, zum Beispiel auf das Regierungsviertel. Die Russen werden versuchen, die Ukrainer psychologisch zu unterminieren, Chaos auszulösen, ihren Willen zu brechen. Für einen Großangriff fehlen aber die Truppen.

Die Angst ist groß, dass die Russen dann vorgehen wie in Grosny, das sie in Trümmer schossen.

Ich halte es für nicht militärisch sinnvoll, dass die Russen das tun. Aber es ist eigentlich die einzige Methode, die die russischen Streitkräfte hier anwenden können, also ihre enorme Feuerkraft einzusetzen, um die Stadt systematisch zu zerstören – im schlimmsten Szenario.

Wir haben in den ersten Wochen des Krieges sehr viele Bilder von liegen gebliebenen russischen Panzern gesehen und eilig zurückgelassenem Material, haben Geschichten gehört von desertierten russischen Soldaten. Inwieweit spiegeln diese Bilder die Realität im Land?

Wir kennen nur die Grundzüge dessen, was geschieht. Es ist einerseits so, dass die russischen Truppen viel langsamer vorangekommen sind, als sie es erwartet hatten. Andererseits können wir den Status der ukrainischen Armee kaum beurteilen. Das liegt daran, dass die Ukraine den Informationskrieg bis hierhin gewonnen hat. Und der Hauptgrund, warum sie ihn gewonnen hat, ist natürlich, dass dieser Krieg in der Ukraine stattfindet. Das heißt, hier filmen nicht russische Bürger und Bürgerinnen mit ihren Handys zerstörte ukrainische Fahrzeuge, sondern umgekehrt. Das allein ist schon eine gewisse Unausgewogenheit in der Berichterstattung, die von der ukrainischen Seite natürlich gut propagandistisch verarbeitet werden kann. In den letzten Tagen versucht die russische Seite, dies zu ändern, mit eigenen Videos, aber auf noch bescheidenem Niveau. Dadurch haben wir nur ein sehr ungleiches Bild der Situation. Wir folgen fast zwangsläufig dem ukrainischen Narrativ dieses Krieges …

… wonach die russischen Verluste weit höher sind als die ukrainischen.

Wenn dem so wäre, würden wir wahrscheinlich auch deutliche ukrainische Vorstöße sehen. Aber die sehen wir nicht. Bislang haben beide Seiten ungefähr 9 bis 10 Prozent ihrer Soldaten und ihres Materials in diesem Krieg verloren. Das ist ein extrem hoher Preis, den beide auch nicht mehr lange durchhalten werden, wenn es so weitergeht.

Aber die russische Armee hat viel mehr Nachschub im Hintergrund, oder?

Ja, und es hat in Russland auch noch keine generelle Mobilmachung gegeben. Außerdem hat die russische Luftwaffe in den vergangenen Tagen gezielt die ukrainische Rüstungsindustrie attackiert und zerstört, das hat man zuletzt deutlich gesehen. Die russische Führung will die Ukraine offenbar bestrafen und eine Wiederbewaffnung für eine Zeit nach dem Krieg deutlich erschweren. Die Entwaffnung war ja ein Ziel der russischen Führung. Für die Ukraine wird es daher viel schwieriger, ihre Verluste aufzufüllen.

Bislang hat Russland offenbar viele alte Panzer und Waffen eingesetzt. Es gibt die Theorie, sie spare sich die modernen Waffensysteme und gut ausgebildete Truppen für einen Krieg mit der Nato auf. Ist das plausibel?

Die Russen sind zum Beispiel mit ihrer Luftwaffe sehr vorsichtig. Aber Russland hat kein Interesse an einem Zweifrontenkrieg. Im Moment sind 75 Prozent einschließlich der Eliteverbände der russischen Landstreitkräfte in der Ukraine in einen verlustreichen Krieg verwickelt. Russland hält einen Teil seiner moderneren Waffen sicher zurück, auch weil man im Hintergrund immer einen Konflikt mit der Nato fürchtet, da gibt es traditionell eine gewisse Paranoia. Aber einen solchen Krieg wünscht sich der russische Generalstab sicher nicht.

Falls die russische Armee weiter kaum vorankommt: Wie groß ist die Gefahr, dass ein zunehmend wütender Wladimir Putin eine „kleine“, sogenannte taktische Atomwaffe einsetzt?

Die russischen Streitkräfte brauchen keine taktischen Nuklearwaffen, um diesen Krieg militärisch für sich zu entscheiden. Ob sie ihre politischen Ziele erreichen? Da bin ich sehr skeptisch, aber dass sie die militärischen Ziele erreichen, dass sie also die ukrainischen Streitkräfte abnutzen und die Kampfkraft brechen, das kann ich mir gut vorstellen. Sie brauchen aber dazu nicht taktische Nuklearwaffen. Etwas anderes wäre ein Konflikt mit der Nato. Aber dann würde ohnehin vieles so nicht mehr gelten.

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Würde eine Flugverbotszone, wie sie die ukrainische Regierung fordert, unweigerlich in einen solchen Krieg zwischen der Nato und Russland münden?

Ich fürchte, ja. Wenn man eine Flugverbotszone über der Ukraine errichtet, dann ist man im direkten Krieg mit Russland, eben weil es nur so möglich ist, eine Flugverbotszone effektiv umzusetzen. Das bedeutet auch, dass in Belarus und Russland selbst Ziele angegriffen werden müssen, weil viele der Luftabwehrsysteme der Russen dort stationiert sind. Das ist für mich keine wirkliche Option, es sei denn, man will diesen Konflikt eskalieren lassen.

Aber es würde die Menschen in der Ukraine schützen.

Wohl kaum. Es gibt ja nicht diese großen bombergestützten Angriffe. Die meisten Angriffe finden von Land aus statt, mit Artillerie. Da hätte eine Flugverbotszone kaum Einfluss.

Im Moment geben sich beide Seiten siegesgewiss. Nach Ihrer Analyse scheint aber ein Triumph im Sinne eines Niederringens für beide in weiter Ferne.

Da werden beide ihre Ziele überdenken müssen, ja. Im Moment läuft alles auf einen Abnutzungskrieg hinaus, den beide in dieser Form nicht mehr sehr lange durchhalten werden. Wenn sich diese Verluste auf beiden Seiten in dieser Form fortsetzen, wird es in zwei bis drei Wochen ein Innehalten, eine Umgruppierung und Anpassung der Taktik geben müssen. Es wäre gut, wenn diese Pause intensiv für die Diplomatie genutzt würde. (rnd)