Kindheitstraum95-Jährige wohnt ein Jahr nach der Flut im Weilerswister Reiterstübchen

Lesezeit 8 Minuten
Die Blumen in ihrem Beet sind gerade das, was der 95-jährigen Klara Lagier (r.) Hoffnung gibt. Denn aktuell verbringt sie ihre Tage mit ihrer Tochter Helga Lagier zwischen dem verwüsteten Wohnhaus und einem Reiterstübchen.

Die Blumen in ihrem Beet sind gerade das, was der 95-jährigen Klara Lagier (r.) Hoffnung gibt. Denn aktuell verbringt sie ihre Tage mit ihrer Tochter Helga Lagier zwischen dem verwüsteten Wohnhaus und einem Reiterstübchen.

Weilerswist-Lommersum – Es klingt wie ein wahrgewordener Mädchentraum: Abgelegen an einer Landstraße zwischen Feldern und Wiesen liegt der Pferdestall Mühlenhof. Ein paar Hühner laufen frei über das Gelände, Hofhund Jana bellt, wenn sie Fremde sieht, dann wedelt sie freudig mit dem Schwanz. 18 Pferde stehen bei Familie Lagier im Stall, einige davon sind Einsteller – ihre Besitzer mieten den Boxenplatz –, andere sind Reitschulponys.

„Auf diesem Hof gibt es kein Schickimicki und keine Zickereien“, sagt Angelika Kohlgraf, die selbst in dem Betrieb das Reiten gelernt hat: „Hier lernt man, wie man mit Pferden umgeht und wie man mit Menschen umgeht. Deshalb ist es auch so wichtig, den Hof zu erhalten.“ Doch gerade das stelle Besitzerin Helga Lagier aktuell vor eine große Herausforderung. Denn die Flut im vergangenen Jahr hat nicht nur den Hof verwüstet, sondern auch das Wohnhaus, das sie sich mit ihren Eltern geteilt hat.

Nach der Flut: Eine der Innenwände bereits eingesackt

„Der Altbau, dieses Fachwerkhaus, hält nur noch durch die Stützpfeiler“, erklärt die 59-Jährige. Tatsächlich, schaut man durch eines der kleinen Fenster ins Innere, ist eine der Innenwände bereits eingesackt, droht einzubrechen und ist mit Eisenpfeilern befestigt. Auch eine der Außenwände muss komplett mit einem Gerüst gehalten werden. „Das Haus ist einsturzgefährdet“, ergänzt Lagier: „Aktuell schlafen wir zwar noch im Anbau, aber das könnte sich bald auch ändern.“

Sie hilft seit Monaten auf dem Hof: Angelika Kohlgraf. Als Nächstes sollen die gespendeten Paddockplatten verlegt werden.

Sie hilft seit Monaten auf dem Hof: Angelika Kohlgraf. Als Nächstes sollen die gespendeten Paddockplatten verlegt werden.

Denn: Vermutlich sitze nach wie vor Nässe in den Wänden. Das bedeute, dass die Lagiers den Anbau komplett räumen müssen. Mutter Klara Lagier zieht deshalb bald in einen Wohncontainer. Aktuell befinde sich der Lebensmittelpunkt der 95-Jährigen und ihrer Tochter Helga Lagier in ihrem Reiterstübchen. Für Helga Lagiers Vater sei diese Wohnsituation gesundheitlich unzumutbar gewesen, er wohne jetzt im Altenheim. Klara Lagier braucht zum Gehen einen Rollator – allein das Raus- und Reingehen aus dem behelfsmäßigen Wohnraum stellt eine Herausforderung dar. Eine langfristige Lösung kann das nicht sein, vor allem nicht im Winter. „Unser aktuelles Ziel ist es, dass die beiden bis zum Winter wieder im Anbau wohnen können, dass es dort trocken und warm ist“, sagt Kohlgraf.

Vieles ist bereits wieder aufgebaut in Lommersum

Ihrer Hilfe ist es den Lagiers zufolge zu verdanken, dass es momentan nicht noch deutlich schlechter auf dem Hof aussieht. Vieles ist bereits wieder aufgebaut, wie das Rondell für die Pferde. „Das Wasser stand unterschiedlich hoch, die Ställe hat es zum Glück nicht erwischt, weil die höherliegen“, erklärt Lagier. Doch der Freizeitbereich hinter der Westernstadt – eine kleine Siedlung mit Wochenendpavillons im Wildweststil – sei komplett überschwemmt gewesen. „Was hier alles rumgeflogen ist, nachdem das Wasser zurückgegangen ist, das kann man sich jetzt gar nicht mehr vorstellen“, so die Hofbesitzerin.

Wiederaufbau

Betroffenen richtig helfen

Nach wie vor benötigen Flutbetroffene Hilfe beim Wiederaufbau. Doch mittlerweile sei es auch wichtig, auf die richtige Art und Weise zu unterstützen, sagt Helferkoordinatorin Angelika Kohlgraf. „Wir brauchen die richtigen Leute und die richtigen Materialien zur richtigen Zeit“, erklärt sie. Das gelte auch für den Mühlenhof.

Ressourcen, die benötigt werden, seien Schaltschränke und Verteilerkästen, Kabel, Dachziegel, Dämmmaterial und Bauholz sowie Material für den Innenausbau. Zudem benötigten die Lagiers rund 200 Tonnen Lava oder Kies für Paddocks.

Auch Fachkenntnis sei gefragt. „Wir brauchen definitiv Elektriker und Dachdecker. Wenn es mit dem Anbau losgeht, generell Manpower, einfach Menschen mit Bauerfahrung“, sagt Kohlgraf.

Unterstützer können sich unter Tel. 01 73/5 37 34 60 oder per E-Mail an den Verein Fortuna Hilft wenden. Die Beteiligten bitten, sich nur über die angegebenen Kontaktdaten zu melden, da sonst ein hoher Mehraufwand entstehe. (enp)

Kohlgraf, die bis heute Flutbetroffene und ihre Tiere über die Vereine Komet und Fortuna Hilft unterstützt, habe nach der Katastrophe einfach auf dem Hof gestanden. „Das kam so, ich habe ja selbst hier meine Kindheit verbracht und mich dann gefragt, wie der Mühlenhof die Flut wohl überstanden hat. Also bin ich vorbei gekommen. Und ja, da wurde sofort klar: Hier muss ich mit anpacken“, so die Helferin.

Eigene Kindheitserinnerungen hängen an dem Hof

Weil auch ihre eigenen Kindheitserinnerungen an dem Hof hängen, sei ihr der Wiederaufbau ein besonderes Herzensprojekt. „Ich möchte, dass noch viele Kinder das erleben können, was ich damals erleben durfte. Das muss unbedingt erhalten bleiben, gerade in der heutigen Zeit, wo es oft mehr um die neuen teuren Reitklamotten geht und die Mädchen mit dem SUV vorgefahren werden.“

Doch der Hof ist weitläufig, und mit Aufräumarbeiten ist es längst nicht getan. Allein das übliche Alltagsgeschäft wie das Versorgen der Tiere, das Instandhalten der Ferienwohnungen für Kinderfreizeiten oder die Organisation des Reitunterrichts beschäftigen Lagier eigenen Aussagen nach den ganzen Tag. Hinzu kommen langwierige bürokratische Verfahren, um Soforthilfen zu beantragen oder auch um Baugenehmigungen einzuholen.

„Erst seit kurzem wissen wir sicher, dass der Altbau komplett abgerissen werden muss, weil das Gutachten fertig war. Darauf mussten wir warten, bevor wir überhaupt mit irgendwas anderem anfangen konnten“, so Lagier. Als Nächstes müsse der Strom vom Dach genommen werden – auch das dauere, weil der Versorger einbezogen werden müsse. Und dann fehle wiederum das Material für die neue Stromversorgung, wie etwa Verteilerkästen. „Die sind momentan einfach Mangelware, selbst wenn man das nötige Kleingeld hat, es gibt einfach keine. Wahrscheinlich haben einfach sehr viele Leute nach der Flut welche gebraucht“, schätzt Kohlgraf.

Schnell viele helfende Hände gefunden

Immerhin beim Aufräumen hätten sich dank Kohlgraf schnell viele helfende Hände gefunden. „Das ist eben so, wenn man viele Kontakte hat“, erklärt sie. Tage und Wochen hätten unzählige Helfer damit verbracht, Angespültes und Zerstörtes zu sammeln und zu entsorgen. Die Frauen erinnern sich an ein Paar, das zum Zelten vorbeigekommen sei. „Die haben richtig angepackt, die waren richtig gut. Die wollten nicht einmal was zu essen dafür haben, nur ihr Zelt aufschlagen und den ganzen Tag helfen“, sagt Lagier.

Der alte Fachwerkbau muss von innen und außen mit einem Gerüst gestützt werden, da er einsturzgefährdet ist.

Der alte Fachwerkbau muss von innen und außen mit einem Gerüst gestützt werden, da er einsturzgefährdet ist.

Doch eine gut gemeinte Absicht reicht nicht immer, um Flutbetroffene zielführend zu unterstützen. „Mal hat man Leute, die können alles. Aber dann gibt es auch immer so Spezialisten, da weiß man, die bindet man am besten irgendwo an, damit sie nur in einem bestimmten Radius den Rasen mähen“, scherzt Kohlgraf. Eine weitere Herausforderung sei die Koordination der Helfenden gewesen. „Wir brauchen ja nicht 50 Gärtner oder fünf Tonnen Baumaterial zur gleichen Zeit. Bei Baustoffen ist auch immer die Frage, wo man das lagern kann“, erklärt Kohlgraf. Das sei auch aktuell ein Problem: „Wir haben jetzt hauptsächlich Bauholz über unsere Annabelle in Aussicht, das wir auf jeden Fall brauchen.“

4,5 Tonnen Baumaterial aus Norddeutschland

Besagte Annabelle Reum, selbst Fluthelferin, lebt jedoch in der Nähe von Lübeck. Insgesamt 4,5 Tonnen Baumaterial müssten nun aus Norddeutschland bis nach Lommersum transportiert werden, inklusive eines Zelts zur Lagerung. „Zum Glück haben wir mittlerweile einen Spediteur gefunden, der uns das herbringen will“, freut sich Kohlgraf. Doch damit sei es nicht getan: „Das ist natürlich nicht alles an Material, was wir brauchen. Und dann muss das alles auch jemand einbauen.“

Dass nun sogar Hilfe aus der Nähe von Lübeck komme, sei auch ein Beispiel für den Zusammenhalt nach der Flut, bestätigt Reum telefonisch: „Ich war seit dem August nach der Flut erst im Ahrtal tätig, ein zufälliges Telefonat hat mich dann weiter zu Fortuna Hilft vermittelt.“ Die Lagiers habe Reum kennengelernt, als sie die zerstörten Paddocks erneuern wollten. „Helga hat 2000 Quadratmeter Paddockplatten gespendet bekommen, die aber noch ein Dorf weiter im Lehm lagen. Wir haben uns dann vor Ort getroffen, Helfer vernetzt und uns um die Paddockplatten gekümmert“, erinnert sie sich.

Auch jetzt noch, mehr als ein Jahr nach der Katastrophe, fahre sie regelmäßig in die Region, um Betroffene zu unterstützen. „Wenn so etwas wie die Flut passiert, dann kommen einem die sieben Stunden Fahrt plötzlich ganz nichtig und kurz vor“, sagt die 45-Jährige. Deshalb plane sie auch in Zukunft, weiter zu helfen: „Ich gehe da gar nicht mehr von weg.“

Kein Ende in Sicht was Flutarbeiten angeht

Auch für die Lagiers scheint vorerst kein Ende in Sicht zu sein, was die Flutarbeiten angeht. „Ich stehe morgens auf und fange an zu arbeiten – und das, bis ich abends ins Bett gehe“, sagt Lagier. Wie sie bei all der Arbeit noch einen klaren Kopf bewahren könne? „Ja, es geht ja nicht anders“, ist ihre Antwort: „Es muss ja weitergehen. Die Tiere müssen versorgt werden. Das war schon immer so. Den Kopf in den Sand zu stecken war nie eine Option.“

Das könnte Sie auch interessieren:

Auch die 95-jährige Klara Lagier ist vom gleichen Schlag. „Was soll man machen?“, fragt sie. „Natürlich möchte ich schnell wieder ein richtiges Zuhause haben. Aber ich habe den Krieg noch miterlebt, ich habe Schlimmeres gesehen. Man muss sich an den kleinen Dingen erfreuen“, sagt sie und deutet auf ein buntes Beet: „Wie an den schönen Blumen.“ Kohlgraf ergänzt: „Als ich gesehen habe, dass ihr wieder etwas gepflanzt habt, wusste ich, ihr seid wieder am Start. Da wusste ich, es geht weiter auf dem Mühlenhof.“