Israelischer Soziologe Natan Sznaider„Diese Frage nach der Empathie für die andere Seite. Bin ich Mutter Teresa?“

Lesezeit 5 Minuten
Natan Sznaider, israelischer Soziologe und Schriftsteller, sitzt bei der Eröffnung des Philosophie-Festivals Phil.Cologne auf der Bühne der Flora.

Natan Sznaider, israelischer Soziologe und Schriftsteller, sitzt bei der Eröffnung des Philosophie-Festivals Phil.Cologne mit dem Schriftsteller Kermani auf der Bühne der Flora.

Sznaider diskutierte mit dem Kölner Schriftsteller Navid Kermani zum Auftakt der phil.Cologne über den Krieg im Gazastreifen und mögliche Wege, ihn zu beenden.

Nachdenken und neue Perspektiven gewinnen – das wollte die phil.Cologne zum Auftakt möglich machen, sagte Programmleiter Tobias Bock. Lösungen stellte er nicht in Aussicht - aber damit hatte beim Thema Israel wohl auch niemand gerechnet. Auf dem Podium in der Kölner Flora saßen der israelische Soziologe Natan Sznaider und der Kölner Autor Navid Kermani. Die beiden haben sich vor mehr als 20 Jahren in Haifa kennengelernt. Und schon damals debattierten sie leidenschaftlich über den Nahostkonflikt.

Nachzulesen ist das im Buch „Israel. Eine Korrespondenz“, in dem ihr Mailwechsel von damals dokumentiert ist. Es ist nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 erschienen und soll laut Angaben des Hanser-Verlags auch helfen, die Gegenwart im Nahen Osten zu verstehen. Aber können wir in Deutschland diese Gegenwart überhaupt verstehen? Das Gespräch, das Wolfram Eilenberger moderierte, zeigte, wie schwierig das ist. Und wie sehr es dabei auf die persönliche Perspektive ankommt.

Sollte also jemand im Publikum gewesen sein, der vorher noch davon überzeugt war, zu wissen, wie der Nahostkonflikt am besten zu beenden ist – er dürfte sich seiner Sache nun weniger sicher sein. Und das ist ein großer Verdienst in einer Zeit der Vereinfachungen. Waffenstillstand, Zwei-Staaten-Lösung und fertig – so simpel ist es ganz sicher nicht.

Alles zum Thema Nahostkonflikt

„Diese Zwei-Staaten-Lösung ist eine Art Ikone geworden“, sagte Natan Sznaider. „Weil man sich eigentlich nichts anderes mehr vorstellen kann. Aber wir sollen uns nicht einbilden, dass das die Lösung aller Probleme wäre. Das würde weder die Vernichtungsfantasien auf der einen noch auf der anderen Seite beenden. Aber es ist eine Option, die offengehalten werden muss. Weil es ansonsten nur den Abgrund gibt.“

Ich würde einen Frieden, wenn überhaupt, versuchen, politischer zu definieren. Eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln
Natan Sznaider

Der Soziologe sprach sich gegen ein „messianisches Konzept des Friedens“ aus. „Ich würde einen Frieden, wenn überhaupt, versuchen, politischer zu definieren. Eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Ein Frieden, der nicht auf Naivität sondern auf Realpolitik beruht.“ Und Realpolitik könnte in diesem Fall sein: Bündnisse Israels mit arabischen Staaten gegen den Iran.

Navid Kermani widersprach: „Ich glaube nicht, dass es undenkbar ist, dass es irgendwann einen wirklichen Frieden gibt.“ Er erinnerte an die Friedenshoffnung, die es kurz nach der Jahrtausendwende in Israel gegeben habe. Damals habe in Umfragen sowohl die Mehrheit der Israelis als auch der Palästinenser einer Zwei-Staaten-Lösung zugestimmt. Auch wenn der Oslo-Friedensprozess am Ende nicht erfolgreich war: „Hoffnung war möglich. Und warum soll das nicht wieder möglich sein?“

Kermani ist es wichtig, dass Leid auf beiden Seiten anzuerkennen, ohne zu werten: „Ich frage mich, warum es so schwer ist, anzuerkennen, dass der 7. Oktober ein traumatisches, fürchterliches, katastrophales Ereignis war, das nicht hätte geschehen dürfen. Und zugleich auch zu formulieren, dass das, was der Zivilbevölkerung in Gaza seit sieben Monaten - oder auch den Palästinensern seit vielen Jahrzehnten - geschieht, ebenfalls dramatisch ist?“ Er halte nichts von einem Wettbewerb, wer stärker traumatisiert sei oder mehr gelitten habe.

Navid Kermani, Schriftsteller, sitzt bei der Eröffnung des Philosophie-Festivals Phil.Cologne mit dem israelischen Soziologen Sznaider auf der Bühne in der Flora.

Navid Kermani diskutierte bei der Eröffnung des Philosophie-Festivals Phil.Cologne mit dem israelischen Soziologen Sznaider

Im Bemühen, versöhnliche Töne zu finden, betonte Kermani die historischen Verbindungen zwischen Arabern und Juden. „Von der großen, tragenden Rolle des jüdischen Volkes, der jüdischen Tradition im Nahen Osten, weiß heute kaum noch jemand. Juden waren früher ein wesentlicher Teil der arabischen Kultur.“ Doch diese gemeinsame jüdisch-arabische Vergangenheit werde von beiden Seiten heute systematisch negiert: „Die Araber wollen nichts mehr davon wissen und umgekehrt auch Israel. Dort wird sehr viel dafür getan, die eigene historische Verflochtenheit mit der arabischen Welt auszublenden.“

Natan Sznaider konnte mit diesen Ausführungen überhaupt nichts anfangen: „Dass wir mal gemeinsam irgendwann ein Multikulti-Straßenfest im Nahen Osten hatten, hilft uns im Moment keinen Millimeter weiter“, sagte er. Genauso wenig wie die Anerkennung gegenseitigen Leids. „Das sind Formeln, die sich in einem befriedeten Europa wahnsinnig gut anhören, die man hier hören will und die so natürlich Sinn machen. Aber für mich machen sie im Moment überhaupt keinen Sinn.“ Ihm gehe es darum zu zeigen, dass die extreme Reaktion der israelischen Armee auf das Massaker der Hamas auch dazu diente, die Souveränität wiederherzustellen , die am 7. Oktober ausgesetzt war. In so einer existenziellen Situation helfe ein Appell in Sachen Völkerverständigung nicht weiter.

Das wollte Navid Kermani so nicht stehen lassen: „Wenn wir von beiden Seiten jeden Tag die Propaganda hören: Juden und Araber können nicht zusammenleben, dann ist das kontrafaktisch gegenüber 1300 Jahren judäo-arabischer Geschichte. Und ich finde nicht, dass das in diesen Tagen ein komplett überflüssiger Hinweis ist.“

Empathie für die andere Seite zu empfinden – das stehe für ihn gerade nicht zur Debatte, sagte Natan Sznaider: „Wenn man im Krieg ist, wenn Enkel und Söhne von Bekannten und Freunden im Gazastreifen kämpfen und dann kommt diese Frage nach der Empathie für die andere Seite: Ja - bin ich Mutter Teresa?! Bin ich abgehoben von der Welt und schwebe über dem See Genezareth?! Es geht nicht um Empathie – es geht um Verantwortung.“

Kermani erwiderte, dass das harte Vorgehen Israels im Gaza-Streifen auch komplett jenseits von moralischen Diskussionen politisch unklug sei. „Israel schwächt sich.  Israel war noch nie so isoliert. Und das hat zu tun mit der Reaktion Israels auf das Massaker der Hamas am 7. Oktober.“ Er glaube, dass gerade alles eins zu eins nach dem Plan der Hamas laufe: „Israel sollte zu einer harten Reaktion gezwungen werden, damit es international in Misskredit gerät.“

Wirklich philosophisch wurde es bei diesem Auftakt des Philosophiefestivals selten – sehr oft fiel das Wort „Realpolitik“. Aber dafür erlebte das Publikum ein echtes Streitgespräch, ein Suchen nach Antworten, ein offenes Bekenntnis auch über die eigene Hilf- und Machtlosigkeit. Eine Debatte ohne Gewinner oder gar Patentrezepte - aber mit vielen, teils ernüchternden Erkenntnissen.